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Währenddessen… (KW 49)

In der Kolumne „Währenddessen …“ zeigt die Comicgate-Redaktion, was sie sich diese Woche so zu Gemüte geführt hat.

Niklas: Ich habe dreizehn Jahre gebraucht, den Roman Baudolino von Umberto Eco zu kaufen und zu lesen. Im Mai war es endlich soweit – es hat sich wirklich gelohnt. Im Jahr 1204 erobern Kreuzfahrer Konstantinopel, die Hauptstadt des byzantischen Reiches. Während einer Plünderung wird ein Beamter von einem alten Haudegen namens Baudolino gerettet, der ihm seine komplexe Lebensgeschichte erzählt. Als italienischer Bauernjunge wurde der alte Mann vom späteren Kaiser Friedrich I. Barbarossa adoptiert und erlebte im Laufe seines Lebens viele Abenteuer, eines phantastischer als das andere. Realität und Fiktion verschmelzen so eng miteinander , dass sie nicht auseinanderzuhalten sind.

Baudolino ist ein moderner Schelmenroman. Unser Erzähler ist ein gerissenes Schlitzohr, der gerne ein gutes Garn spinnt, es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und das alles mit viel Ironie ausschmückt. Damit ist er also unzuverlässig, aber wenn die Geschichte gut ist, wen schert da schon die Wahrheit? Ein altes Thema Umberto Ecos, der gerne über das Konzept der Realität philosophierte, vor allem wenn Sprache unser einziges Hilfsmittel ist, um sie konkret zu definieren. Wir wissen, dass Baudolino wahrscheinlich lügt, er weiß es und sein Zuhörer weiß es auch. Diese Metaebene ist also von Anfang an mitgegeben. Ab dem Punkt, an dem phantastische Wesenheiten das Buch bevölkern, müssen sich Leser*innen jedoch fragen, ob die absurden Ereignisse innerhalb der Realität des Buches nicht doch der Wahrheit entsprechen. Ob das einige rassistische Stereotype rechtfertigt, die Eco als Mittel der Satire nutzte, steht allerdings zur Debatte. Davon abgesehen, liest sich das Buch einfach phantastisch: es gibt Kämpfe und Intrigen, waghalsige Fluchten, unser Erzähler findet die große Liebe  (gleich zweimal!) und am Ende kommt es zu einem tragischen Ende, das gut zu Schelmenromanen und deren pessimistische Weltsicht passt.

Intellektuell stimulierender wird der Roman außerdem dadurch, wie die Figuren Sprache als Werkzeug einsetzen: nicht nur, um Geschichten zu erzählen, sondern auch, um die politische Realität der mittelalterlichen Welt zu legitimieren. Zu Beginn muss Friedrich zum Beispiel seinen Anspruch auf die Krone des Kaisers festigen, also beauftragt er Baudolino, das mit gefälschten Dokumenten zu legitimieren. Der geht dann mit Freunden an die Arbeit und diese konstruieren so effektiv gefälschte, historische Papiere über ein magisches Königreich, dass sie am Ende ihre eigenen Lügen glauben. Das endet dann in der zweiten Hälfte des Buches damit, dass die Gruppe sich auf die Suche nach dem fiktiven Land machen, in der Hoffnung, so endlich ihre Herzenswünsche erfüllen zu können. Sprache kreiert also nicht nur Realität und festigt sie, sie hilft auch dabei, den eigenen Wünschen Gestalt zu geben und sie solange zu verfolgen, bis man daran zugrunde geht.

Baudolino ist ein cleverer und ausgezeichnet geschriebener Roman. Ähnlich wie Ecos Der Name der Rose kann man das Buch umso mehr genießen desto besser man Latein kann und sich mit den zahlreichen Motiven und Werken auskennt, die der Autor zitiert. Im Gegensatz zur Rose ist der Roman aber wesentlich zugänglicher und vor allem spannender geschrieben. Mein Buch des Jahres.

Wer übrigens einen Schelmenroman im Comicformat lesen möchte, dem empfehle ich Der große Indienschwindel. Don Pablos ist ein genauso raffinierter Erzähler wie Baudolino.

Was habt ihr diese Woche gekauft, gesehen, gelesen, gespielt? Postet eure Bilder, Geschichten und Links einfach in die Kommentare.

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