„Süßer Vogel Jugend“ denkt man oft verklärend, wenn man das Treiben junger Menschen beobachtet. Dabei gibt es wohl keine Lebenphase, die den Menschen vor ähnlich komplexe Aufgaben stellt, wie die Jugend. Der Gedanke, Schule wäre ein Safe Space, an dem die Kinder auf das Leben vorbereitet werden, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, ist wohl der größte Irrtum unserer Zeit. Als ob Mobbing, Leistungsdruck, Versagensängste und der tägliche Kampf ums Standing in der Klassenordnung keine existentiellen Nöte wären.
Die chinesischen Künstlerinnen Jidi (Erzählung) und Ageng (Artwork) erzählen uns eindringlich darüber in ihrer Serie Der freie Vogel fliegt, welche nun in sechs Bänden komplett vorliegt. Darin geht es, grob umrissen, um die komplette Schulkarriere der Schülerin Lin Xiaolu, die uns als sehr verträumte, eher leistungsschwache Schülerin durch die Erzählung führt. Ständig bekommt sie von ihren Lehrern zu hören, wie düster ihre Zukunftsaussichten sind. Zusätzlich stigmatisiert ist Lin, da sie Scheidungskind ist und ihre Eltern nicht zu den Elternabenden erscheinen. Auf diese Weise ist man schnell abgestempelt.
Aber man ist als Kind ja nicht nur gefordert, sich im Spannungsfeld zwischen Eltern und Schule zu positionieren. Auch die Mitschüler können sich jederzeit aus willkürlichem Anlass als Dämonen der Hölle entpuppen. Als Lin mit sechs Jahren einem Mitschüler sagt, dass sie ihn mag, reicht das aus, um für den Rest des Schuljahres Zielscheibe und Opfer von Hänseleien zu sein. Wie kann man als Sechsjährige aber auch nur so naiv sein, seine Gefühle gegenüber einem Mitschüler zu offenbaren? Kinder sind eben kleine Ratten und so zieht Lin ihre eigenen Schlüsse: Nie auffallen, keine Gefühle zeigen. Zum Glück gibt es Comics. In die flüchtet sich Lin.
Und so wird Lin älter und bleibt doch eine kleine graue Maus, die noch nicht mal besonders gut in der Schule ist – und hier setzt glücklicherweise erst richtig die Erzählung ein, denn Der freie Vogel fliegt handelt in seinen sechs Bänden davon, wie Lin trotz des Drucks, der von allen Ecken auf sie einprasselt, zu sich selbst findet. Dabei helfen ihr zahlreiche Wegbegleiter, darunter ein umtriebiges Künstlerpaar, das sie grenzenlos bewundert, obwohl die beiden doch selbst rettungslos in eine „Schlag mich – Beiß mich“-Beziehung verstrickt sind. Trotzdem himmelt Lin das Pärchen an und projiziert Erwartungen in sie hinein, die diese nie erfüllen können. Und dann ist da die böse Clique um Su Yan, Ren Dong und Baymax, die alle erst richtig gemein zu Lin sind, bis man dann doch zueinander findet, miteinander ausgeht und um die Häuser zieht.
Ausgehen, Konzerte, Alkohol, Sex und eine Abtreibung sind die „dunkle“ Seite dieses Schülerlebens, und doch sind solche Episoden vielleicht das nötige Gegengift für die „erwünschte“ Seite, in der übertriebenes Leistungsdenken dominert und der ständige Druck, unter den Besten sein zu müssen. Jidi erzählt uns über ihren Erzählavatar Lin, dass erst das Abtauchen in das „wahre Leben“ ihr das Rüstzeug gegeben hat, auch die Schule zu überstehen. Besonders eindringlich wird das, als sich die Schulversagerin Lin mit iher Cousine Ruirui vergleicht, die ein viel besseres Schulleben führt als sie. Ruirui schreibt viel bessere Noten als Lin und hat nie Probleme mit dem Lernen. Wie gerne nur wäre Lin wie Ruirui. Doch dann versagt Ruirui bei der Aufnahmeprüfung und stürzt sich aus dem Fenster.
So lernen wir, dass gute Noten und Fleiß noch lange kein Garant für ein gutes Leben sind, wenn das System den Wettbewerb über alles andere stellt. Wenn selbst die Besten einknicken und auf der Strecke bleiben können, was ist dann überhaupt der richtige Weg, sich zu behaupten? Man sollte sich nicht täuschen: Jidi und Ageng verhandeln hier kein „chinesisches“ Problem. Auch wenn das chinesische System den Ruf hat, besonders leistungsorientiert zu sein, so sind die Willkür von Aufnahmeprüfungen, die unzähligen Gemeinheiten, die sich Schüler und Lehrer gegenseitig und untereinander antun und auch die Irrwege der Jugend allgemeingültige Themen, in denen sich jeder wiederfindet. Als Schreiber dieser Zeilen finde ich auf nahezu jeder Seite von Jidi und Agengs Reihe Anknüpfungspunkte an eigenes Erleben, so dass die Worte der japanischen Mangaka Satonaka Machiko auch gleich Lügen gestraft werden, wenn ihr Lob auf dem Buchrücken zitiert wird: Jedes junge Mädchen kann in den Figuren in dieser Geschichte sich selbst wiederfinden? Nicht nur Mädchen!
Für Lin Xiaolu nimmt die ereignisreiche Erzählung zuletzt ein gutes Ende. Nahezu der komplette sechste Band handelt davon, wie die junge Frau die Prüfung besteht und damit beginnt, ihre Träume zu verwirklichen. Man sollte aber nicht glauben, dass davon auch nur eine Seite langweilig oder zu viel ist. Jidi und Ageng setzen Lins Glück nicht nur in farbenfrohen Bildern in Szene, die unerreichbar schön wirken, sie runden Lins Reise bis dorthin auch mit vielen lebensklugen Gedanken ab, die alle Leser und Leserinnen zum Träumen bringen und dabei doch an keiner Stelle kitschig oder hochtrabend werden.
Die Lektüre von Der freie Vogel fliegt kann Glücksgefühle erzeugen. Mir wird ganz schwer ums Herz, wenn ich daran denke, wie die Künstlerin Ageng im Nachwort von Band 6 schreibt, dass sie aus gesundheitlichen Gründen vermutlich keine große Serie mehr angehen möchte. Umso mehr freut es mich daher, dass das von Jidi gestaltete My Way für diese Jahr noch angekündigt ist. Meine besten Wünsche gehen an Ageng.
Erzählerisch einnehmend und visuell berauschend endet Chinabooks‘ bisher schönste Veröffentlichung.