Das erste Mal begegnete ich Herman Melvilles Bartleby in Form einer Radiolesung des bayerischen Rundfunks. Der stetig wiederkehrende, entwaffnend offenherzige Satz „Ich möchte lieber nicht“ setzte sich schnell fest in meinem Denken und hat mich nie wieder völlig losgelassen. Nun ist bei Splitter José Luis Munueras Comicadaption erschienen. Würde sie mich ebenso einnehmen können? Nicht ganz.
Grafisch ordnet Munuera den Bartleby gewissenhaft in eine stimmige Darstellung der New Yorker Wall Street der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Die Kulissen sind akkurat, die Figuren zu Karikaturen in zeitgemäßer Kleidung überzeichnet, die Farbgebung dabei weitgehend monochrom, was den Comic gemeinsam mit seinen digital-heruntergedimmten Hintergründen insgesamt sehr modern wirken lässt.
An der Erzählung selbst hat Munuera nur kleine Nunancen geändert und setzt die offensichtlichsten Akzente in Form von Zooms und Splash Pages, wo Melvilles Vortrag eher unaufgeregt vonstatten geht. Warum aber auch nicht die Vorzüge ausspielen, die Comic gegenüber allen anderen Medien hat, also bekommen wir schöne Stadtansichten, Wimmelszenen und geschäftiges Treiben in der Metropole, und doch lenkt das alles auch schon wieder ab von der minimalistischen Essenz der Geschichte, der Totalverweigerung des jungen Kopisten Bartleby, mit der er seinen Arbeitgeber, einen freundlich-humanistisch gesinnten Notar, dessen Namen wir nie erfahren, an den Rand der Verzweiflung führt.
An manchen Stellen hat Munuera die Gedanken des Erzählers eigenmächtig in Dialoge gegossen, um die Erzählform zu variieren, ein nicht völlig unerheblicher Eingriff, macht es doch aus Melvilles diskretem Notar eine Plaudertasche mit dem Herz auf der Zunge, der sein Inneleben gerne teilt, sei es mit der Putzfrau, sei es mit einer Arbeitswegbekanntschaft, einem pragmatischen, zunehmend dämonisch wirkenden Finanzexperten. Diese Differenzierung ist wichtig bei Munuera, denn sie erlaubt ihm, Bartlebys Arbeitgeber als erklärten Menschenfreund und allzu anständiges Rädchen in der betriebsamen Maschine des entfesselten Kapitalismus zu zeigen.
Anders als Melvilles ursprüngliche Version ist Bartlebys Weigerung bei Munuera als ziviler Ungehorsam gegen den Irrglauben an Wachstum und Kapitalismus zu verstehen. Um an dieser Lesart keinen Zweifel zu lassen, flankiert Munuera die Geschichte an entscheidenden Stellen mit Schlüsselfiguren, z.B. einem Straßenredner, der die Idee des Widerstands gegen das System in den Raum wirft, und dem bereits erwähnten Kapitalisten, mit dem unser Notar so gerne plaudert. Munueras Adaption ist somit ebenso zeitgemäß politisiert, wie es vor einigen Jahren auch Nicolas Junckers Adaption der Drei Musketiere war, in welcher d’Artagnans Abenteuer aus feminisitischer Perspektive betrachtet wurden.
Das ist von Munuera sehr geschickt orchestriert, aber auch völlig humorlos, gerade im Vergleich zur literarischen Vorlage. Dass man sich Bartleby auch anders annähern kann, bewies vor einigen Jahren Robert Sikoryak, der für seine Adaption die Figuren von Scott Adams‘ Dilbert nur minimal im Kontext anpassen musste. Auf nur drei Seiten gelingt es Sikoryak, den absurden Humor von Melville auf den Punkt zu bringen und dabei sogar die fortgehende Entwicklung der Story zu berücksichtigen. Bartlebys existenzieller Horror, der größer ist als alle berechtigte Kapitalismuskritik, kann tatsächlich aber auch nur mit Humor adäquat abgebildet werden.
Dennoch schätze ich Munueras Annäherung ungemein. Seine Vereinnahmung ist ein ebenso reizvolles Spiel mit der Vorlage wie die Dilbert-Version und leistet damit das, was gelungene Adaptionen auszeichnet: neue Perspektiven auf vertraute Stoffe zu bieten.
Interessante Interpretation einer schwer zu fassenden Vorlage
Splitter, 2022
Text und Zeichnungen: José-Luis Munuera
Übersetzung: Tanja Krämling
68 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 18,00 Euro
ISBN: 978-3967921687
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