Nein, das ist keine Fantasy und kein historischer Comic, sondern etwas viel Selteneres: ein Schelmenmärchen, nicht nur für Erwachsene, in Comicform.
Es gibt ja nicht nur die Märchen mit magischen Spiegeln oder verfluchten Hecken (und den dazugehörigen symbolistischen und erotischen Untertönen). Speziell in Italien, woher Aldobrando stammt, sind seit den ersten Märchensammlungen, Jahrhunderte vor den Grimms, Schelmenmärchen mindestens ebenso beliebt (und auch die dortige Schullektüre Pinocchio ist ja ein Grenzgänger). In Aldobrando wird also nichts und niemand verwünscht, aber die Geschichte spielt in einem mittelalterlichen Nirgendwo und Nirgendwann, in dem es vermutlich die meiste Zeit nach Thymian riecht (und den Rest der Zeit, in Verliesen, nach Blut und nach Ausscheidungen), und permanent Zykaden zirpen. Die Figuren sind schöner und hässlicher, größer und kleiner als bei uns, und wir kennen sie im Grunde alle schon so gut wie ihre Geschichte: Der junge, unbedarfte und gutherzige Aldrobrando, der Ziehsohn eines Zauberers, soll für seinen Meister Wolfkraut suchen und stolpert dabei unverschuldet in eine Intrige um eine wunderschöne Prinzessin und einen perversen König. Herzensgüte und Beherztheit müssen sich gegen vertauschte Identitäten, verrohte Gemüter und gegen Egoismus behaupten, und, vorsicht: Spoiler!, sie tun es auch.
Beiläufig opulente Aquarellbilder blättern eine ebenso derbe wie luftige Märchenwelt auf, in der sich karge Schneelandschaften mit üppigen Wäldern abwechseln, in der Gebirgspfade drohend in den Abendhimmel ragen und manche Mauern terrakottarot im Abendlicht leuchten. Es ist eine sehr sinnliche und elementare Welt, die, ganz gegen den Trend vergleichbarer Comics, gleichzeitig nahezu vollständig auf gezeigte Erotik und weitgehend auf Gewalt verzichtet und sich dadurch wohl eine märchenhafte Unschuld bewahren will (in konsequenter kreativer Selbstbeschränkung verzichtet der Band auch beinahe vollständig auf die Darstellung von Tieren, der sonst gültigen Chiffre für einfaches, naturverbundenes Leben). Zu dieser Unschuld gehört auch das Fehlen aller parodistischer Elemente, die wir mittlerweile beinahe zwangsläufig in einem solchen Stoff erwarten – die durchaus hier und da dick aufgetragene Ironie ist Teil der Erzählung und karikiert sie nicht. Auf der anderen Seite tümelt der Comic an keiner Stelle: so unbeirrbar und ohne Pathos wie ihr Held führt sie uns zügig und virtuos durch das seltsame kleine Königreich, die Wendungen der Handlung und vom Dunklen zum Licht. Die Sprache ist auf moderne Weise gerade so weit gesprenkelt mit altmodischen Elementen, dass wir zufrieden die Märchenhaftigkeit anerkennen. Dass die obligatorische Dienerin und Vertraute der Königin hier ausdrücklich befreit (und vorher als „Sklavin“ bezeichnet) wird, ist da ebenso zufriedenstellend wie die Läuterung des monströsen „Todbringers“, dem obligatorischen hilfreichen Kerkergenossen, zu einem guten Kerl (auch wenn ich die Umgestaltung von Hulk und Chewbacca in diesen Typus in den letzten Jahren nicht besonders mochte).
Eine solche Mischung nicht nur zu finden, sondern Panel für Panel auszugestalten und mit jedem zusätzlichen Detail, jedem Strich und jedem Wort erfolgreich neu zu definieren, ist keine kleine Kunst und möglicherweise die größte Leistung dieses Comics (Matteo Garrones Kinofilm Das Märchen der Märchen leidet dagegen zum Beispiel in jeder Sekunde unter seinem ambivalenten Tonfall).
Ein zusätzlicher stilistischer Kniff liegt darin, wie stark sich das Artwork der jeweiligen Szene anpasst:
Unheimliche Gestalten bei ungemütlicher Witterung erinnern an Bilder von Goya.
Wenn durch den Wald gerannt wird, ist der Wald nahezu impressionistisch aufs Blatt geworfen. Und Verschwörer treffen sich in strengen Bildern, wie sie zur Zeit des Jugendstils über das Mittelalter gezeichnet worden sind.
Diese graphische Vielfalt steht immer so deutlich im Dienst der Erzählung, dass sie erst beim wiederholten Lesen und Blättern tatsächlich auffällt, zu dem Aldobrando mit seinen Lichtungen, Pfützen, Lagerfeuern und malerisch matt beleuchteten Gemächern eindrücklich einlädt. Die Figuren sind dabei immer deutlich wieder zu erkennen: die Prinzessin sieht aus wie Jennifer Connelly, der Folterknecht wie Mads Mikkelsen, und alle, als wären sie von Manara gezeichnet.
Vielleicht ist es, auch, Fernweh, vielleicht, auch, ein allmählicher Überdruss an immer neuen Märchenvariationen, die mehr oder weniger tiefenpsychologisch Erotik und Ängste beleuchten (was zumindest ich früher sehr faszinierend fand), aber dieser Comic hat mir vermutlich gefehlt.
Stilsicherer märchenhafter Comic in virtuosen Aquarellbildern, der mit Witz und ein paar neuen Nuancen ohne Schlacke eine altbekannte Geschichte noch einmal neu erzählt
Carlsen, 2020
Text und Zeichnungen: Luigi Critone, Gipi (Geschichte)
Übersetzung: Ulrich Pröfrock
208 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 28,00 Euro
ISBN: 978-3-551-75106-5
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