„Don’t go to the edge of The Dreaming. You’ll dream evil.“
Der Vertigo-Kalender wird auf März umgeblättert, das März-Kalenderblatt des Vertigo-Kalenders zeigt Death von Chris Bachalo.
Death aus den Sandman-Comics ist ja irgendwie eine Figur wie Santa Claus oder der Osterhase, alles Figuren, die mir schon immer ordentlich auf den Zeiger gingen (auch wenn die Christmas Chronicles-Netflix-Produktionen mit Kurt Russel zugegeben ganz schön witzig sind). So richtig einleuchtend war mir die Konzeption von Death nie: Während ihre Geschwister Dream, Delirium (ehemals Delight), Destruction, Despair, Desire und Destiny die Sache, für die sie stehen, eher repräsentieren als abarbeiten, macht Death die ganze Arbeit; sie besucht jeden, der soeben die Schwelle vom Leben zum Tod überschreitet und geleitet ihn zu seinem nächsten Bestimmungsort: Himmel, Hölle, Limbo (und wie sie alle heißen), natürlich immer in kulturell angemessener Kluft, und für jeden nimmt sie sich auch angemessen Zeit. Einmal im Jahr kriegt sie Urlaub und darf dem nachspüren, wie es ist, ein Leben zu haben.
Das Sandman-Universum hat immer den Eindruck gemacht, als wäre es der allumfassende Schirm, unter dem man sämtliche Mythen, natürlich auch sämtliche Superhelden-Stories einbetten kann. Alle Mythen sind Erzählungen und Träume, inspiriert von Dream, flankiert von Death, Destiny, Desire … – was wiederum sehr offensichtlich nur eine von Gaiman ausgedachte Linse ist, mit der man auf Stories blicken kann.
Die kleinste Story als die größte Story – das Konzept ist bekannt: auch die Bibel ist nur ein – pardon, kleines – Buch, trotzdem ist sie das Buch das über der Welt steht und diese eigentlich auch erst ermöglicht. Mit Sandman hat Neil Gaiman durchaus dreist einen weiteren Mythos erschaffen, der sich nun auch noch über die Bibel – nebenbei auch über alle anderen Mythen – erhebt und sagt, die existieren doch nur, weil sie alle von Dream, dem Prince of Stories inspiriert wurden. Eigentlich ist Neil Gaiman damit ein weitaus größerer Blasphemiker als es Rick Veitch mit seinem gecancelten „Morning of the Magician“ war. Kein Wunder, dass sich Gaiman damals ’89 so stark mit Rick Veitch solidarisierte, als dessen geplantes Swamp Thing-Finale vom Verlag nicht ermöglicht wurde (siehe Comicgate vom 7.12.2024).
Dankenswerterweise hat sich Neil Gaimans Welterklärungsmodell recht schnell vom DC-Kosmos verabschiedet und zu keinen größeren Verbindlichkeiten geführt. Ich hätte nicht haben wollen, dass Death beispielsweise in Superman-Geschichten eine Art ständige Präsenz im Hintergrund sein sollte und in den Gutters zwischen den Panels nur darauf wartet, die Toten abzuholen. Ich würde aber auch an keine anderen Engel oder Dämonen, keinen Gott, keinen Himmel, kein Limbo und an keine Hölle denken wollen, wenn ich einen Krimi oder auch eine politische Fantasy-Serie wie Jamie Delanos Animan Man lese. Auch Peter Milligans Shade crossovert erfreulicherweise nie mit Sandman, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die Idee eines shared universe, in dem alles mit allem in Zusammenhang stehen soll, war schon immer auch eine Last.
Dessen ungeachtet trifft John Constantine in der neuesten Hellblazer-Erzählung auf den Sandman, man bemüht sich also durchaus um einen gemeinsamen Rahmen, egal wie einengend dieser tatsächlich ist. Jaja, schon klar, vor Death sind alle gleich – aber kaum hat sie dich kurz begrüßt, ist sie schon wieder weg und die Gerechten und die Sünder werden doch wieder selektiert. Den einzig richtigen Blick auf das Gesamtgefüge von Himmel und Hölle hatte vermutlich Garth Ennis in seinem Hellblazer-Run, der einen deutlich spüren ließ, wie kalt und unbarmherzig ein festgefügtes Universum mit einer solchen Kosmologie doch wäre. Ennis hat liebgewonnene Figuren recht brüsk auch bei minderschwerem Fehlverhalten (Selbstmord) in die Hölle verdammen lassen und uns Leser mit der Vorstellung dieser Ungeheuerlichkeit alleine gelassen. Garth Ennis war eben schon immer der Smarteste von allen. Er wirft uns Ideen vor die Füße und verlangt uns ab, dass wir uns selbst einen Reim darauf machen. Neil Gaiman dagegen kreierte zwar den pseudomythologischen Überbau, der sich aber bald in postmoderner Unbestimmtheit auflöste im Sinne von „alle Mythen sind wahr“ und „wahr ist, was geglaubt wird“. Trotzdem: der Ansatz, dass Mythen das einzige sind, was uns vom Chaos trennt, verdient Anerkennung.
Nun ja, ob das Sandman-Universum noch lange seine Strahlkraft beibehält, bezweifle ich bei den derzeitigen Diskussionen um seinen Urheber. Vermutlich geht es bald den Weg von Hansi Hase, Gevatter Bär und Bombi, den Zombi, wenn auch aus anderen Gründen. Death werde ich nicht vermissen. Das Sandman-Universum hätte aber sicher noch die ein oder andere Fragestellung vertragen, z.B. inwiefern darin die Vorstellung von alternativen Fakten salonfähig gemacht oder doch eher reflektiert wurde.
Am Ende bleibt, dass die Quintessenz von Gaimans Sandman eigentlich schon in den späten 1970ern und frühen 1980ern in den Texten von Ronnie James Dio artikuliert wurde – ohne dass ich Gaiman hier des Ideenklaus bezichtigen möchte. Dio kam der Tonalität von Gaimans Traum-Universum erstaunlich nahe und hat dessen Ideen schon umkreist und variiert, als Gaiman diese noch gar nicht formuliert hatte. Das war nie langweilig und – obwohl Heavy Metal und laut – durchaus poetisch. In „Heaven and Hell“ von 1980 liegt Dio goldrichtig mit der Zeile „The closer you get to the meaning, the sooner you know that you’re dreaming“. Und in folgender Passage aus einer erweiterten Fassung von „Heaven and Hell“ manifestieren sie sich, sofern man sie sehen will, alle: Dream, Desire, Delirium, Despair, Destruction, Death und Destiny:
„There′s a big black shape looking up at me,
He said I know where you ought to be
He said come with me and I’ll give you desire
But first, you got to burn, burn, burn, burn in fireThen a little white shape looked down at me
He said heaven is where you ought to be
He said come with me ′cause I know just what to do
But I said go away, I’m gonna burn in hell with all of you.“
Man muss bei Dio nicht lange suchen, um weitere Bilder dieser Art zu finden. Für Sandman-Fans, auch die vom Glauben abgefallenen, lohnt sich die Suche.
Als wichtige Geburtstage im März zählt der Vertigo-Kalender auf:
William Gaines
Dr. Seuss
Lou Reed
Michelangelo
Will Eisner
Vaslav Nijinsky
Jack Kerouac
Albert Einstein
Viv Stanshall
Stephen Sondheim
Akira Kurosawa
Harry Houdini
Fatty Arbuckle
Lawrence Ferlinghetti
Vincent van Gogh
Echte Vertigo-Buffs wissen diese Namen einzuordnen. BTW: Ronnie James Dio (Geburtstag 10. Juli 1942) hat leider keinen Eingang in den Vertigo-Kalender gefunden. Falscher Stallgeruch?