Christian hat auf dem Fantasy-Film-Fest den Film Nothing gesehen, die Verfilmung zu Jane Tellers skandalösem Jugendbuch Nichts.
Christian: Nichts ist ein moderner Jugendbuchklassiker über Nihilismus. Weil Jane Tellers Roman zunächst als sehr desillusionierend eingestuft wurde, war die Anwendung als Schullektüre in seinem Herkunftsland Dänemark zeitweise verboten, gleichzeitig erhielt der Roman aber auch mehrere Preise, darunter den dänischen Jugendbuchpreis. Inzwischen ist die Einschränkung aufgehoben, dennoch ist es sicher kein Buch für jeden und eine Triggergefahr nicht auszuschließen. Aber man kann auch wunderbar darüber plaudern.
Eines Tages beschließt der junge Jean-Philippe, dass doch alles keinen Sinn hat und das weitere Leben außer freudloser Arbeit, anstrengenden Beziehungen und Tod keine Perspektive zu bieten hat. Er klettert auf einen Pflaumenbaum, bewirft seine Mitschüler*innen mit Pflaumen und erzählt ihnen seine Gedanken. Die wiederum wollen ihm beweisen, dass jeder Einzelne von ihnen etwas besitzt, das ihm wirklich etwas bedeutet und seinem Leben schon deshalb einen Sinn gibt. Sie beschließen, diese Dinge auf einem „Stapel der Bedeutung“ zusammenzutragen.
Die erste Sammlung von Gegenständen ist durchaus eine Anhäufung von ganz netten Sachen, aber schnell durchschaut man sich gegenseitig, dass die wirklich bedeutungsvollen Sachen doch zurückgehalten werden. Wer gibt schon freiwillig seine Lieblingssandalen ab? Aber genau dazu wird die zwölfjährige Agnes eben aufgefordert: Ihre Lieblingssandalen als erstes wirklich bedeutungsvolles Objekt in die Sammlung zu geben. Danach darf Agnes ihrerseits jemanden bestimmen, etwas wirklich bedeutungsvolles auf den Stoß zu geben. Ein perfides Spiel von Gruppendruck, Eskalation und Gehässigkeit nimmt seinen Lauf, denn bald werden die innersten Geheimnisse nach außen gekehrt und man betritt einen destruktiven Pfad, von dem es kein Zurück mehr gibt.
Natürlich musste dieses erfolgreiche kleine Büchlein irgendwann verfilmt werden und um es kurz zu sagen: Trine Piil Christensens Film ist großartig geworden. Während die literarische Vorlage eher eine abstrakt-artifizielle Fabel bleibt, wird die Story im Film unerwartet plausibel. Es sind ganz wenige Akzente nur, die die Geschichte plötzlich sehr in die Gegenwart holen. Einige Kinder tragen noch – lustlos und völlig ineffektiv – ihre Covid-Masken um ihre Ohren, hier und da ist ein „Fridays for Future“-Plakat zu sehen. Die Kinder sind etwas älter, bereits halbwegs politisiert, doch ihr Lehrer hat sichtlich keine Motivation, ihnen den Sinn der von ihm gestellten Aufgaben zu vermitteln: ihr macht das jetzt, denn das steht so im Lehrplan. Während mir beim Lesen der Vorlage Jean-Philippes Nihilismus eher überspannt und kindisch vorkam, ist er im Film von der ersten Sekunde die einzig wahrhaftige Haltung in einer hohlen Umgebung.
Im weiteren Verlauf der Story wird nichts weichgespült und jede Episode in voller Härte durchexerziert, dennoch bleiben auch die Handlungen der anderen Kids schlüssig in ihrer Eskalationslogik. In der gewählten Rahmung von Pandemie und Endzeitstimmung, während gleichzeitig die Eltern nur noch die Hülse von dem vorleben, was einst echte Werte waren, suchen die Kids neue Verbindlichkeiten: Sie fahren den Karren dabei zwar ordentlich an die Wand, aber wenigstens spüren sie sich dabei. Das ist harter, zeitgemäßer Stoff.
Spaß macht der Film außerdem, vor allem da die jugendlichen Schauspieler*innen großartig und sehr authentisch gecastet sind und eine enorme Spielfreude an den Tag legen. Die Regisseurin meinte dazu, dass die Dreharbeiten oft recht lustig von statten gingen, wenn man sich z.B. gemeinsam zur Lagebesprechung traf und dabei sagte: „So Kinder, heute köpfen wir den Hund“. Man darf sicher glauben, wenn sie erzählt, dass niemand mit den verstörenden Inhalten alleine gelassen wurde. Wieso auch: Die Story dürfte tatsächlich für viele junge Menschen sehr anregend sein.
Zu sehen war der Film bisher nur am Fantasy-Film-Fest in Originalsprache mit Untertiteln. Es gibt leider noch keine Ankündigung für den Filmstart, der Trailer ist aber bereits zu sehen: Nothing – Film 2022 – FILMSTARTS.de
Ich kann sowohl die literarische Vorlage als auch den Film sehr empfehlen.
1 Kommentare