In der Kolumne „Währenddessen …“ zeigt die Comicgate-Redaktion, was sie sich diese Woche so zu Gemüte geführt hat.
Niklas: Ein paar Sachen gehen mir bei Jeff Lemire und Matt Kindt langsam richtig auf den Nerv: entweder strecken sie die Geschichte unnötig (Black Hammer, oh Gott, Black Hammer) oder sie lösen die Geschichte schlapp auf (danke, Grass Kings). Außerdem muss überall eine unzureichende und distanzierte Vaterfigur auftauchen (scheinbar die einzige Geschichte, die Lemire kennt). Dafür, dass sie angeblich zu den besten Autoren der Moderne gehören, fehlt mir bei ihnen immer etwas. Na ja, zumindest musste ich da an Sarah Burrini denken. Denn bei allem Lob für Das Leben ist kein Ponyhof, erwähnt niemand, dass hinter den dynamischen Zeichnungen auch gute Texte stehen. Das zeigt sich vor allem bei der erneuten Lektüre des ersten Hefts von Nerd Girl. Burrinis Alter Ego im engen Kostüm mag zwar nicht die Heldin sein, die der Moloch Köln verdient, aber zumindest eine der Heldinnen, die wir jetzt brauchen. Denn hinter den mal mehr, mal weniger subtilen Wortspielen und überzogenen Actionszenen verbirgt sich … genau das, was auf dem Cover versprochen wird! Aber wie bringe ich das jetzt mit den Texten in Verbindung?
Ganz einfach: Trotz der übertriebenen Gesichtsausdrücke und Posen lesen sich die Dialoge zwischen Burrinis Figuren wie echte Gespräche, die richtige Menschen führen würden. Richtige Menschen, die nicht immer die hellsten sind, aber es oft gar nicht so böse meinen, so wie auch Nerd Girl selbst. Das Beste: Die Geschichte ist in sich abgeschlossen, mit einer kleinen Andeutung auf eine Fortsetzung. Einer ganz kleinen. Winzig geradezu. Hurra! In einer Welt, in der manche Geschichten mit Stoff für sechs Hefte auf achtzehn gestreckt werden, ist das schon wieder erfrischend. Eine Vaterfigur gibt es übrigens auch. Ob er unzureichend oder distanziert ist, findet ihr am besten selbst heraus.
Julian: Am Donnerstag war ich auf der Deutschlandpremiere von Alejandro Jodorowskys neuestem Film, Endless Poetry im Lodderbast in Hannover, dem kleinsten Kino der Welt (39 qm). Nachdem Jodorowsky über Jahrzehnte hinweg kein Wort mit seinem ehemaligen Produzenten Michel Seydoux sprach, fand er zufällig heraus, dass man sich gegenseitig vermisste und die gemeinsame Arbeit in bester Erinnerung behielt, was zu einer erneuten Zusammenarbeit führte. Bereits 2013 erschien mit La Danza de la Realidad der erste Teil von Jodorowkys biografischem Projekt (der Film läuft in Deutschland vermutlich im September an, kann in Großbritannien und Frankreich aber bereits auf Blu-ray erworben werden und steht meines Erachtens The Holy Mountain in nichts nach); nun also folgt der zweite Teil.
„Das Alter ist keine Demütigung. Du löst dich von allem. Vom Sex, vom Reichtum, vom Ruhm. Du löst dich von dir selbst. Du verwandelst dich in einen Schmetterling, einen lodernden Schmetterling, ein Wesen aus reinem Licht!“ – Alejandro Jodorowsky
Jodorowsky, gespielt von Jeremias Herskovits (in jungen Jahren), Adan Jodorowsky (als junger Mann) und Alejandro Jodorowsky (als alter Mann, der immer wieder zu seinen jüngeren Ichs spricht) zieht mit seinen Eltern nach Santiago de Chile und taucht in die Kunstszene der Stadt ein, trifft seine erste große Liebe (Pamela Flores, die auch seine ewig singende Mutter verkörpert), löst sich zunehmend von der gewalttätigen Welt seines Vaters (Jodorowskys Sohn Brontis) und lernt die Schönheit der Welt lieben, ehe er sich entschließt, nach Paris zu gehen.
Endless Poetry hebt sich in seiner Zugänglichkeit deutlich vom restlichen Werk des Regisseurs ab, obschon eine genaue Kenntnis seiner Comics, Romane, Therapieform und des Tarots den Filmgenuss um so manche Ebene bereichert. Auch tritt dieses Mal der magische Realismus etwas in den Hintergrund. Schuf Jodorowsky im ersten Teil noch fantastische Erlebnisse, um seinem Vater das Lieben beizubringen, begnügt er sich nun mit kurzen psychomagischen Szenen. Etwa, wenn er als alter Mann sein junges Ich mit dem Vater versöhnt, den er nach seiner Abreise aus Chile nie wieder sehen wird. Und obschon Endless Poetry sein Publikum nicht auf die gleiche Weise erschlägt wie etwa La Danza de la Realidad oder The Holy Mountain, wird er noch lange nachwirken, denn er besitzt nicht nur für seinen Regisseur heilende Wirkung.
Christian: Beim großen Treffen der Lovecraft-Society letzten März wurde während der Podiumsdiskussion wiederholt auf die Fernsehserie True Detective verwiesen und wie sehr diese durch die Einflüsse H.P. Lovecrafts geprägt sei. In der zweiten Ausgabe des Lovecrafter, dem Vereinsmagazin der Deutschen Lovecraft-Gesellschaft, werden diese Einflüsse etwas genauer benannt. Neben H.P. Lovecraft, heißt es dort in Nils Gamperts Essay „Träumen in geschlossenen Räumen“, seien unbedingt auch Thomas Ligottis „Conspiracy against the human race“ und vor allem auch Robert W. Chambers Roman „The King in Yellow“ zu nennen, aus denen teils recht eindeutig Ideen und Motive für True Detective übernommen wurden. Daraus hat Nic Pizzolatto ein ziemlich reizvolles Drehbuch gestrickt, welches Noir-Motive mit lovecraftischem Nihilismus kurzschließt. Während das lovecraftische Weltbild vor allem durch die Figur des von Matthew McConaughey gespielten Detective Rust Cohle vermittelt wird, gibt dessen Partner Marty, gespielt von Woody Harrelson, den bodenständigen Part – wobei „bodenständig“ und „konservativ“ in einer Hard-Boiled-Polizeistory wieder ganz andere Untiefen mit sich bringt.
Neben Lovecraft sehe ich auch Grant Morrisons Serie Invisibles als Ideengeber, unter anderem weil in beiden Serien über Zeit und Wahrnehmung philosophiert wird, und wie die Menschen willkürlich Zusammenhänge und Sinn im Leben suchen. Das sind wuchtige Ideen, die mir tatsächlich in einem Krimi noch viel besser gefallen als in überdrehten Action-Vehikeln wie The Matrix, von dem bekannt ist, dass es Anleihen an The Invisibles gibt. Wenn ich mir so ansehe, wie sich die Geschichten von Grant Morrison, H. P. Lovecraft, oder jetzt Nic Pizzolatto, dem Motiv der sinnlosen Welt annähern, so wirkt das auf mich wie eine Spiegelung des Gleichnis vom Elefanten, der von fünf Gelehrten mit verbundenen Augen berührt wird – und jeder von ihnen glaubt, von dem was er ertastet, auf das Aussehen des Tieres schließen zu können. Im Gleichnis steht der Elefant natürlich für Gott und die blinden Personen für die Religionen, die versuchen, sich eine Vorstellung von Gott zu machen. Auch unsere Horror- und Krimiautoren fischen nach der Essenz der Welt, und doch hat jeder von ihnen seine eigene, wiederum willkürliche Vorstellung vom großen „Big Nothing“.
True Detective ist hervorragende Fernsehunterhaltung und bietet mir das, was ich zuvor in American Horror Story vergeblich gesucht habe. Einen niveauvollen, facettenreichen, modernen und spannenden Gruselkrimi, der einen auch nach der letzten Szene noch einige Zeit beschäftigt.
Christian: In der vierten Episode von True Detective hatte ich kurzzeitig das Gefühl, im falschen Film zu sein. Aus ermittlungstaktischen Gründen schlägt Detective Rust Cohle bei einer Rockerbande auf, die er aus früherer Undercover-Tätigkeit bereits kennt und schließt sich – um die Scheinidentität zu wahren – spontan drei fiesen Typen an, die einen bewaffneten Raubüberfall verüben wollen. Das fand ich doch sehr Jack-Bauer-like. Die Episode mündet zudem in eine wilde Plansequenz, wie man sie aus den Filmen von Brian de Palma kennt: Eine mehrminütige Actionszene, gedreht mit einer einzigen Kamera, ohne Schnitt. Ein Höllending, aber irgendwie auch ein Fremdkörper in der sonst eher dialoglastigen Miniserie.
Andererseits aber auch irgendwie den Vorbildern verpflichtet, allen voran einmal mehr Grant Morrisons Invisibles: Für diese Reihe bat Grant Morrison 1995 seine Künstlerin Jill Thompson um einen Stilmix, um sich der Darstellungsweise von Oliver Stone in Natural Born Killers anzunähern. So sollten einige Szenen nach Rob Liefeld aussehen, andere wie Sin City, Watchmen oder Love and Rockets. (Vgl. Leserbriefseite von Invisibles Nr. 17, 1996). So gesehen spiegelt der vorübergehende Stilbruch bei True Detective auch nur die Vorbilder auf originelle Weise wider und es wundert etwas weniger, dass man stilistisch plötzlich Referenzen zu Brian de Palma-Filmen und der Fernsehserie 24 zu spüren meint.
Was habt ihr diese Woche gekauft, gesehen, gelesen, gespielt? Postet eure Bilder, Geschichten und Links einfach in die Kommentare.
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