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Währenddessen… (KW 14)

Mit dem Vertigo-Imprint startete 1993 der Summer of Love amerikanischer Comics.

Das April-Motiv des Vertigo-Kalenders zeigt ein Promo-Bild der Reihe Sandman Mystery Theatre. Das Bild zeigt die Foto-Kunst des SMT-Cover-Designers Gavin Wilson.

Obwohl vage als Spin-Off der Sandman-Reihe angelegt, ist Matt Wagners Noir-Serie, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs spielt, sehr unabhängig und eigenständig. Hier ist kein Fantasy-Kram zu erwarten, keine metafiktionalen Schwurbeleien, kein Death, Morpheus, Kain und Abel, kein Dreaming, keine Engel, keine Hölle. Es gibt wohl einen losen Bezug zur DC-Serie Starman, vielleicht sogar der der Justice Society of America (sagt Wikipedia), auch gibt es ein (begeisterndes) Crossover mit Sandman in einem ausgekoppelten Spezialband mit Titel Sandman Midnight Theatre, aber diese Anleihen sind sehr unauffällig. Sandman Mystery Theatre ist in seiner erzählerischen Ausrichtung der fassbaren Realität verpflichtet, fern von surrealen Tendenzen, trotzdem psychologisch dicht mit inneren Monologen und gelegentlichen Traum- und Alptraumsequenzen. 1993 war so etwas im Vertigo-Imprint die Ausnahme. Guy Davis detailreiche Zeichnungen und sein lässiger Schraffierstil sind einzigartig. Später ist Davis vor allem im Hellboy-Universum anzutreffen gewesen (B.P.R.D. – viele Hefte).

Es hat sicher viel Spaß gemacht, diese Covers in Szene zu setzen. K.I. war da nicht am Werk.

Da ich gerade erst die ersten vier Hefte von SMT gelesen habe und noch 71 weitere vor mir liegen, gehe ich lieber nicht zu sehr auf den Inhalt ein und beschreibe lieber das Umfeld, in dem die ersten SMT-Hefte 1993 erschienen. Es waren die ersten zwei Monate des Vertigo-Imprints und neben Sandman Mystery Theatre 1 erschienen damals:

Death – The high cost of living 1 (Neil Gaiman/Chris Bachalo): Das ist jetzt wirklich ein Spin Off mit typischem Vertigo-Material über Figuren jenseits von Gut und Böse. Ich fand die Death-Comics eher langweilig, aber natürlich war der Sandman-Hype einer der Gründe, warum Vertigo überhaupt existierte.

Enigma 1 (Peter Milligan/Duncan Fegredo): Queer, surreal, metafiktional und postmodern. Genau die Art von Comics, für die das Vertigo-Label geschaffen wurde. War damals absolut state of the art und richtungsweisend. (Link zur CG-Rezension)

Mercy (J.M. de Matteis/Paul Johnson): Viel innerer Monolog, Spiritualität, Surrealismus, Esoterik, sehr deep. War das die Richtung, die in Zukunft von Vertigo zu erwarten sein sollte? J.M. de Matteis kam mir sehr esoterisch vor. Seine Serien Moonshadow, The Last One und Seekers into the Mystery waren ja ähnlich in ihrem Tonfall. Es dauerte ein bisschen, bis ich mit seiner Art warm wurde, aber mit der Zeit wurde ich Fan. Dass Seekers nach 13 Heften bereits eingestellt wurde finde ich bis heute höchst bedauerlich.

Sebastian O 1 (Grant Morrison/Steve Yeowell): Visionärer Steampunk-Dreiteiler, der viel zu schnell wieder vorbei war und doch alles auf den Punkt brachte. Für Grant Morrison war das nach Doom Patrol der bisher „erwachsenste“ Comic. Seine spätere Superhelden-Karriere war da nicht absehbar.

Kid Eternity 1 (Ann Nocenti/Sean Philips): Surrealistisch, metafiktional, abgehoben, die Schranke zwischen Leben und Tod einreißend, visuell ebenso fordernd wie inhaltlich. Mit Serien wie diesen zeichnete sich ab, dass Vertigo nicht nur ein Imprint, sondern eher schon sein eigenes Genre war.

Abgesehen davon wurden diverse laufende Serien vertigoisiert. Teilweise merkte man stark den neuen Vertigo-Umbrella, nur in Ausnahmefällen ging der Wechsel ins neue Imprint spurlos vonstatten.

Shade the Changing Man 33 (Chris Bachalo/Glyn Dillon/Peter Milligan): Zufall oder nicht, aber mit der ersten Vertigo-Ausgabe wurde eine neue Stufe der Reihe gezündet. Shade ist der immer noch sträflich unentdeckte Höhepunkt der 25-jährigen Label-History. Viel hintergründiger Humor, top Charakterisierung, wahnsinniges Artwork und ein Feuerwerk an Ideen, das auch 32 Jahre später seinesgleichen sucht.

Hellblazer 63 (Steve Dillon/ Garth Ennis): Die unangepassten Zwei (Ennis und Dillon) sind zwar auch mit ins Vertigo-Lager gezogen, weil sie nur da ungestört ihr nicht jugendfreies Zeug machen können, aber von Vertigoisierung war da eher nichts zu merken. Fun Fact: Fast jede zweite Vertigo-Serie entwirft eigene Jenseits-Vorstellungen, hat ihre eigene Form von Himmel und mindestens Kid Eternity, Shade, Hellblazer und Swamp Thing haben unterschiedliche Teufel, Engel und je eine eigene Dämonologie. Von einem shared universe war eigentlich keine Spur. Manchmal wurde zwar trotzdem crossovert, aber das war dankenswerterweise sehr vernachlässigbar und just for fun. Die postmoderne Sandman-Prämisse darüber, dass im Reich der Träume und Stories Widersprüche folgenlos bleiben und alles möglich ist, hat keine nennenswerten Schäden hinterlassen. Grant Morrisons Metafiktion aus Animal Man 25 und 26, dass alles nur ausgedacht ist und deswegen jederzeit umgeschrieben werden kann, zum Glück auch nicht. Es gibt zwar einen Ort, an dem der Gedanke seine Berechtigung hat, aber Geschichten erzählen lässt sich so auf Dauer eher nicht.

The Sandman 48 (Jill Thompson/Neil Gaiman): Neil Gaimans Sandman hat sich schon Jahre vorher vertigoisiert. Jill Thompsons Zeichnungen machen „Brief Lives“ (Sandman 41 bis 49) zu einem der grafischen Höhepunkt der Reihe. Ihr flüchtiger Strich von damals gefällt mir viel besser als die Perfektion späterer Jahre. Aber das empfinde ich bei einigen Künstlern dieser Zeit so (z.B. Guy Davis, Duncan Fegredo, Mike Mignola).

Swamp Thing 129 (Nancy A. Collins, Scott Eaton): Ich liebe Nancy A. Collins‘ Run von Swamp Thing. Er ist einfach herrlich unprätentiös und dank Scott Eaton wunderschön anzusehen. Von allen Vertigo-Serien hatte Collins‘ Swamp Thing die größte Leichtigkeit.

Animal Man 57 (Jamie Delano, Steve Pugh): Bei Animal Man schlug Vertigo voll durch. Was bisher eine bodenständige Superheldenserie war, wurde jetzt zum queeren, hippiesken Gegenkulturmanifest. (Link zum CG-Artikel)

Doom Patrol 64 (Rachel Pollack, Richard Case): Gleicher Fall wie Animal Man, aber Rachel Pollack trieb die Vertigoisierung noch viel weiter. Fast schon ein Vertigo-Manifest. (Link zum CG-Artikel)

Das Vertigo-Imprint der frühen Phase war eine einzigartige Vermählung von Mainstream und Underground. Es war der Summer of Love der Comics, eine Phase, in der alle, die sich ausprobieren wollten, eine gemeinsame Bühne bespielt haben und sich nicht um Genregrenzen scherten. Und wie damals ’67 in Monterey war eine britische Kulturinvasion der Auslöser des ganzen.

Später sollte sich das ausdifferenzieren. Je nach Temperament spezialisierte man sich, ging zurück nach England, wurde berühmt, driftete ab, wanderte aus, schlug ein neues Lebenskapitel auf oder kehrte zum Mainstream zurück. Aber damals 1993 gehörten sie alle der gleichen Kommune an, in völliger Freiheit und eine kurze Zeit schien es, als spielten nicht mal kommerzielle Zwänge eine Rolle. (Verkaufszahlen sollten leider schnell zum Damoklesschwert werden, das sich immer wieder neue Serien suchte, um darüber zu schweben.)

Die April-Jubiläen und Geburtstage der Vertigo-Generation:

1.4.: All Fool’s Day / Lon Chaney Sr.Rain Harber’s Birthday (* 1883)

2.4. Max Ernst (* 1891) / The Diner Massacre of Sandman 6

3.4. Marlon Brando (* 1924) / Ken Russel (* 1927) / Richard Thompson (* 1949)

5.4. Bette Davis (*1908) / Roger Corman (*1926)

6.4. „Moonshadow“ Bernbaum (* 1969)

7.4. Billie Holiday (*1915) / Francis Ford Coppola (* 1939)

8.4. Hana Matsuri festival, celebrating the birth of Buddha

9.4. Jean-Paul Belmondo (* 1933)

10.4. Paul Robeson (* 1898)/ Max von Sydow (* 1929)

13.4. Thomas Jefferson (* 1743)/ Samuel Beckett (* 1906)

15.4. Leonardo daVinci (* 1452) / Bessie Smith (* 1894)

20.4. Foundation of Rome by Romulus (753 B.C.) / Harold Lloyd (1893)

21.4. Iggy Pop (* 1947) / Sandy Denny dies falling down a flight of stairs (1978)

22.4. Cassidy killed and reborn as a vampire (1916) / Charles Mingus (* 1922)

23.4. William Shakespeare (* 1564),  William Shakespeare (✝ 1616)

29.4. Duke Ellington (* 1899)

Ein schöner Blend von fiktiven und realen Daten, womit bewusst die Grenze zwischen Fiktion und Realität eingerissen wird. Damals war das noch cool. Ach Jugend, ach Unschuld.

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