Eigentlich hatte ich mir Sachcomics anders vorgestellt: als Infomaterial mit Piktogrammen und Schaubildern, sachlogisch aufgebaut, vom Groben ins Detail gehend, verschultes Wissen, didaktisch aufbereitet und irgendwie fad.
Kristen Radtkes Seek You ist anders. Hier geht es nicht in erster Linie darum, klar abgestecktes Wissen vor uns auszubreiten und uns zu belehren. Radtke nimmt uns mit auf eine Reise, in der sie das vertraute Gefühl der Einsamkeit aus wechselnden Perspektiven umkreist: manchmal mit Bezugnahme auf moderne Verwerfungen, dann mit Blick auf menschliche Kontinuitäten, manchmal mit wissenschaftlichem Forscherblick, dann wieder aus der Innenperspektive der eigenen Erfahrung.
Radtkes Betrachtungen setzen an, als sie von ihrem Onkel von einer bisher ungekannten Seite ihres Vaters erfährt: Kristen kannte ihren Vater stets nur als stoischen, religiösen, strengen Ordnungsliebhaber, jetzt erfährt sie, dass er in seiner Jugend Amateurfunker war. Unter Amateurfunkern ist es üblich, CQ-Rufe in die Welt zu funken, das sind Funksignale, die sich gezielt an Unbekannte weltweit richten, in der Hoffnung darauf, gehört zu werden. Es gehört es zur Etikette des Funkverkehrs, dass der Empfänger eines CQ-Signals den Kontakt mittels einer sogenannten QSL-Karte bestätigt, die über ein spezielles Netzwerk an den Sender zugestellt wird. CQ klingt wie „Seek You“, ist aber ein standardisiertes Signal ohne echte Wortbedeutung, nur eine so klare wie eindeutige Kontaktaufnahme, sozusagen die Suche nach Bestätigung, dass da draußen noch etwas anderes ist. „Ich bin da, bist du es auch?“ will der Funkruf sagen.
Es ist interessant, wie Kristen Radtke langsam konkret wird, wenn sie sich im Folgekapitel dem uramerikanischen Phänomen der eingeblendeten Lacher im Comedy-Fernsehen widmet. Der Tontechniker Charley Douglass war es, der in den 1950er Jahren die erste Maschine designte, die Lachen auf Knopfdruck produzieren konnte. Er wusste, dass der Mensch fröhlicher und ausgelassener lacht, wenn er in Gesellschaft ist. Aber in Gesellschaft befindet sich der Fernsehzuschauer ja gerade nicht – Fernsehen ist eine einsame Beschäftigung.
Auch das Leitbild des einsamen Helden, ein Topos des amerikanischen Kinos, wird von Radtke in all seiner Widersprüchlichkeit gründlich durchleuchtet. Ursprünglich war er unhinterfragt sexy, „eine Abstraktion des amerikanischen Mannes, ein Symbol für Mut und Kraft und – am wichtigsten – für totale Unabhängigkeit“. Es lässt sich leicht eine Absage an soziale Bindungen daraus ableiten, das Leitbild eines Lebens ohne Committments. In späteren Jahrzehnten wurde der Loner in Kino und Fernsehen als gebrochene Figur weiterentwickelt, was den Typus erstaunlicherweise nicht weniger attraktiv wirken ließ. Er wandelte sich zum ausdifferenzierten Identifikationsangebot für all die Loner da draußen, denn es gibt nicht wenige, die Travis Bickle aus Taxi Driver cool finden, oder Rorschach, oder den Punisher, die Hacker Mr Robot oder Microchip, Rick, den einsamen Leader aus The Walking Dead, oder Sheldon Cooper.
Einsamkeit ist eine Droge. In Maßen erlebt kann sie sich die frei gewählte Abgrenzung sehr cool anfühlen – gesund ist sie nicht. Aber es gibt nicht nur den Idealtypus des einsamen Mannes, man denke nur an die völlig anders geartete Einsamkeit der Prinzessin Diana, aber auch die Einsamkeit einer jeden weiblichen Filmfigur des Mainstreamkinos, die noch nicht den Traumprinzen gefunden hat. Radtke entlarvt diese Erzählungen als reine Propaganda: Wir sollen glauben, dass Einsamkeit endet, wenn man nur verheiratet ist. Für manche Menschen aber beginnt die Einsamkeit mit der Ehe erst. Einsamkeit in Gesellschaft wirkt besonders ausweglos.
Als Kirsten Radtke Freunden und Freundinnen von ihrem Thema erzählte, erzählten diese ganz spontan von ihren jeweiligen Einsamkeitserfahrungen, etwas, was man doch sonst eher verschämt für sich behält. Selbst gewählter Rückzug mag cool sein, aber keine Freunde haben ist ein Stigma, das tief verletzt. Ich habe mich daraufhin selbst befragt, ob ich je selbst bedrohliche Einsamkeitserfahrungen gemacht habe, von denen ich erzählen könnte. Mir sind keine eingefallen. Selbstbetrug?
Aber immer dann, wenn ich viel Zeit hätte, mich einmal ganz allein mit etwas zu beschäftigen, was ich schon lange tun wollte, beispielsweise endlich das lang hinausgezögerte Ansehen einer Serienstaffel auf Netflix oder DVD, setze ich mich lieber an meinen Rechner, um eine Buchkritik oder Kolumne für Comicgate zu schreiben. Offensichtlich ertrage ich die passive Einsamkeit vor dem Fernseher keine Stunde. Schreiben dagegen ist mein eigenes, persönliches CQ an die Welt da draußen.
Kirsten Radtkes Ideen und Verbindungslinien wirken oft vertraut, durch ihre sehr persönliche Anordnung sowie die schiere Dichte des Materials sind sie dennoch sehr erhellend. Eine umfassende Topografie der Einsamkeit zeichnet sich ab. Man kann bei der Lektüre fast nicht anders, als seine eigenen Erfahrungen mit denen der Autorin abzugleichen, so dass man in einen fruchtbaren Dialog mit dem Buch tritt.
Es ist ein unlösbares Dilemma, dass der Mensch sich zwar seiner sozialen Bedürfnisse bewusst ist, sein Innenleben aber unmöglich objektiv mit anderen teilen kann. Es bedarf des ständigen Abgleichs mit den Mitmenschen, am besten noch der Kontrolle dieses Abgleichs durch weitere Menschen, um sich der eigenen Existenz und der eigenen Wahrnehmung überhaupt sicher sein zu können. Schwierig wird das in einer zersplitterten Gesellschaft, in der Hass, Polarisierung und Fake News den Kitt einer sinnstiftenden Erzählung zersetzen.
Die Ausgrenzung anderer – und hier schließt sich der Kreis auf sehr ungünstige Weise – kann aber auch ein Mittel gegen die Einsamkeit sein. Kristen Radtke veranschaulicht dies eindringlich an einem verabscheuungswürdigen Experiment mit Rhesus-Affen, die von ihrer Gruppe isoliert wurden, um deren Einsamkeit akribisch zu erforschen. Ebenso Gegenstand der Untersuchung waren aber auch die in der Gruppe verbliebenen Affen, die kein Interesse mehr hatten, die nun verhaltensgestörten Außenseiter wieder in die Gruppe aufzunehmen. Gemeinsame Ablehnung eint.
Einsamkeit wird oft als Pandemie der Moderne bezeichnet. Eine so übersichtliche wie strukturierte Handreichung, wie sie Kristen Radtke gelungen ist, ist kein schlechter Weg, sich dieses Komplexes bewusst zu werden. Viele Erkenntnisse sind gleichermaßen beflügelnd als auch niederschmetternd. Beflügelnd, weil die elegante Beweisführung ihre eigene, in sich liegende Schönheit entfaltet. Niederschmetternd, weil wir damit umgehen müssen, was Radtke uns hier präsentiert. Ihr gelingen schöne Kompositionen, die mit variierenden Bildgrößen und variierender Textdichte spielen, was der gewählten Darstellung eine Form von Musikalität verleiht. Die Bilder stehen den Gedanken dabei nie im Weg, sondern erweitern diese – da habe ich beim Lesen von manchen Literaturadaptionen durchaus schon ganz gegenteilige Erfahrungen gesammelt. Kristen Radtkes Bilder sind im besten Sinne Illustrationen und Begleitmusik der passenden Sorte.
Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei
Helvetiq, 2023
Text und Zeichnungen: Kristen Radtke
Übersetzung: Boris Kenov
360 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,90 Euro
ISBN: 978-3039640232
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