Leben im Fegefeuer.
Der 20-jährige Aaron bemüht sich und kämpft redlich, aber er findet keinen Zugang zur Welt. Gerade durchlebt er eine zermürbende Warteschleife, sitzt zu Hause, lernt auf eine Nachprüfung, aber eigentlich blickt er die meiste Zeit sehnsuchtsvoll aus dem Fenster und wünscht sich seine Probleme weg. Sein einziges Begehren gilt dem kleinen Jungen, der draußen auf der Wiese vorm Haus alleine mit sich selbst Fußball spielt. Aber gerade dieses Problem lässt sich nicht wegwünschen.
Die Eltern lassen Aaron in Ruhe, der Junge muss ja so viel lernen, also hat Aaron alle Zeit der Welt, in seinem Zimmer auf und ab zu gehen und zu überlegen, wie er dem Jungen näher kommen könnte, ohne dass irgend jemand Verdacht schöpfen könnte. Einen Fußball kaufen und so ein gemeinsames Interesse vortäuschen? Aber Aaron mochte Sport noch nie und ist ständiger sozialer Kontrolle ausgesetzt. Die Eltern sind viel zu Hause.
Aaron ist auf die schlimmste Art und Weise Kind geblieben, die man sich vorstellen kann, emotional an die Eltern gekoppelt, ständig von der Angst verfolgt, bei seinem sexuellen Begehren ertappt zu werden. Der Alltag mit den Eltern ist furchtbar dröge. Ständig werden Banalitäten zerredet und man ist ohne Grund gereizt, ohne dass Produktives dabei herauskommt. Aaron schleicht herum, rechtfertigt sich vor seiner Mutter davor, dass er jetzt einen Fußball hat – „ich hatte früher auch einen Ball“ – und versucht, sich dem Jungen anzunähern. Ängstlich und unsicher ist er dabei immer. Perfide ist sein Verhalten außerdem.
Der Stil, in dem der Belgier Ben Gijsemans (Hubert) erzählt, ist ebenso zermürbend wie die Geschichte an sich deprimierend ist. Gijsemans Erzählweise hangelt sich von Moment zu Moment: eine kleine Kopfbewegung ist schon ein neues Panel wert, so dass viele gleichförmige Panels stets das vermeintlich Vertraute untermauern und uns vermitteln: sieh her, es ist doch nichts Empörendes geschehen seit gerade eben. Das Gleichförmige vermittelt uns einerseits den ewigen Stillstand, sobald Aaron sich aber aus der Deckung seines Kinderzimmers wagt, sind die Phasen der Unsicherheit ebenso ausgedehnt. Die Zeit vergeht wie zähes Karamell, während die Unsicherheit, die Peinlichkeit, die Ausweglosigkeit sich überdimensional aufbläht und so schwer auf dem Alltäglichen lastet, dass man die zwischengeschalteten Superheldenphantasien verstehen lernt. Das Alltägliche zu bewältigen ist für den pädophilen Aaron Tag für Tag eine neue Herausforderung.
Wir kennen ähnlich qualvolle Selbstbespiegelungen von vielen Arbeiten Chester Browns, beispielsweise dessen Fuck, im Original I Never Liked You, in welchem ein harmloser Flirt mit einem gleichaltrigen Mädchen zum verklemmten Horror wird, der im peinlichen Eingeständnis gipfelt, dass das neue KISS-Album wichtiger ist als unschuldige junge Liebe. Aber Chester Browns Horror war vorübergehend, der Junge einfach noch nicht reif für das nächste Level des Daseins. Für Aaron dagegen gibt es keine Hoffnung. Obwohl sich eine gleichaltrige junge Frau regelrecht an ihn ranschmeißt, versagt er beim Sex trotz aller guten Vorsätze. Die mehr als 20-seitige Sequenz in kleinen Panels, in der Aaron zum letzten Mal versucht, ein normaler junger Mann zu sein, ist purer existenzieller Horror. Ebenso grauenvoll aber ist die Szene, in der Aaron versucht, mit dem kleinen Jungen ein unverfängliches Fußballspiel zu beginnen, um ihm näher zu kommen. Für Aaron ist ein Leben vorausgezeichnet, das außer Zurückweisung wenig bereithalten wird.
Ein kurzer Begleittext flankiert die Ausgabe, in welchem erläutert wird, dass etwa 25 – 50% aller sexuellen Übergriffe an Kindern von Pädophilen begangen werden: „Analog zu anderen sexuellen Neigungen wird auch bei Pädophilen von einer intakten Verhaltenskontrolle ausgegangen, die jedoch von konstellierenden Faktoren gestört werden kann, beispielsweise durch antisoziale Persönlichkeitsmerkmale, psychische Erkrankungen, Impulsivität, Substanzmissbrauch oder Intelligenzminderung.“ (Fanny de Tribolet-Hardy, Leitung Präventionsstelle Pädosexualität, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, www.kein-taeter-werden.ch). Die Gesamtheit pädophiler Neigung in der Allgemeinbevölkerung wird auf etwa 1% geschätzt.
Verzweifelt versucht Aaron sich zu beweisen, vielleicht doch „normal“ zu sein und seinen Trieb zu unterdrücken, der selbstredend eine Störung ist, die niemals ausgelebt werden darf. Gleichzeitig veranschaulicht Gijsemans, wie leicht die Schutzmechanismen zu umgehen sind, die Aaron davor bewahren könnten, kein Täter zu werden. Es ist eine ganz langsam, aber stetig eskalierende Form des Selbstbetrugs, die den Grenzübertritt immer näher rücken lässt. Ein befreundetes Pärchen lässt den gemeinsamen Sohn in Aarons Obhut, weil sie in Ruhe Sex haben wollen, aber psst, der Sohn darf nichts davon wissen. Also lesen Aaron und der Junge gemeinsam bis in die Nacht hinein unerlaubt Comics, was sie wiederum vor den Eltern geheim halten. So etabliert man ganz nebenbei, gemeinsame Geheimnisse zu haben, die anderen machen das doch auch – aber so erlernt man eben auch die Mechanismen eines perfiden Verhaltens, das nicht zu entschuldigen ist. Ist die Vertraulichkeit erst einmal hergestellt, ist sie das perfekte Einfallstor für Übergriffe – die Bahnen sind gelegt, es muss nur noch passieren. Aaron aber wird kein Täter und bleibt bis zuletzt ein zugewandt-zuvorkommender Mensch, der wegen seiner Unaufdringlichkeit von allen sehr geschätzt wird.
Die Antwort darauf, ob Aaron je eine hoffnungsvolle Perspektive auf sein Leben finden kann, bleibt der Comic dem Leser schuldig. Hat die Gesellschaft einen Platz für Menschen wie ihn? Die kleine Kernfamilie bietet in Aarons Welt keinen ausreichenden Halt, da sie sich ihrerseits bereits im Zustand fortgeschrittener Entfremdung gegenüber sich und der Welt befindet. Aber wie bereits erwähnt: Aaron bemüht sich redlich. Die Gesellschaft wäre gut beraten, dem mit Anerkennung und einer Perspektive entgegenzutreten.
Formal schlüssige Aufarbeitung eines herausfordernden Themas
Edition Moderne, 2024
Text und Zeichnungen: Ben Gijsemans
Übersetzung: Rolf Erdorf
216 Seiten, schwarz-weiß und Farbe, Softcover
Preis: 35 Euro
ISBN: 978-3037312452
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