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Weg

Nachgereichte Rezension zum Thema „Mental Health“: Dass wir diesen Comic vom letzten Herbst beschämenderweise erst jetzt besprechen, macht ihn kein Stück schlechter.

Copyright: Rina Jost

Die traurige Sybil verlässt ihr Zimmer nicht mehr und verschwindet schließlich in ihrem Bett. Tapfer taucht ihre Schwester Malin in den Märchenwald ein, der sich unter Sybils Matratze verbirgt und sucht in anheimelnden Alptraumwelten voll schrulliger Halbwesen nach der Verschwundenen. Malin begegnet unter anderem diversen Schicksalsgöttinnen und einer vergnügten kleinen Hexe, einer als eine Bande Kuschelwesen maskierten fleischfressenden Riesenpflanze, einem scheinbar putzigen Vogel, der sich in einen anklagenden Flugsaurier verwandelt und einem weisen androgynen Wassermenschen mit Furcht vor der Tiefsee. Wer kann Malin zu ihrer Schwester führen oder ihr wenigstens die Spielregeln dieses Zwischenreichs erklären? Malin hat einen niedlichen Hund an der Seite und einen toten Hai im Gepäck, die ihr gegen die größten Gefahren helfen. Aber ihr läuft die Zeit davon, denn wenn Sybil sich einmal unwiederbringlich in einen Stein verwandelt und/oder den großen Fluss überquert hat, gibt es für sie kein Zurück mehr.

Das könnte schwer gewollt wirken, aber diese theoretisch recht abstrakte und mehr als bedeutungsschwangere Fabel funktioniert und packt ab dem ersten Panel (ein verwunschen wirkender Wald im Regen, nahe und von unten, und dazu der Text: „Meine Schwester Sibyl kommt nicht mehr aus ihrem Zimmer.“). Schick in sich zusammengesackte Funnyfiguren mit dicken Umrisslinien und ausdrucksstarken Punktaugen führen als Monster und Magierinnen durch eine gleichzeitig aufgeräumte, stimmungsvolle und ziemlich witzige Fantasywelt. Die mustergültige Mikrodramaturgie, die bei einer solchen Fabel entscheidende Mischung aus Unverfrorenheit und Augenzwinkern und die selbstironische Lakonie machen uns schnell zu Komplizen dieses Comics. Dieser Schwerpunkt auf einer Geschichte unterscheidet den Weg deutlich von beispielsweise I’ts lonely at the Center of the Earth und manchen anderen Mental-Health-Comics (bitte zum Buchstaben M scrollen).

Copyright: Rina Jost

Die sehr sauberen, klug ineinander verschachtelten Panels folgen dabei keinem starren Layout (am ehesten ist es vielleicht ein 4-mal-3-Muster), sondern sind immer der jeweiligen Szene und Wirkung untergeordnet. Ähnlich abwechslungsreich und ausdrucksstark sind die matten, dezent ungewöhnlichen Farben. Ein eiserner Stilwillen verhindert jedes Abrutschen ins Kommerzielle, Grelle oder Kitschige. Unübersehbar schwebt Luke Pearsons Hilda als Leitstern über dem eigenartigen Geschehen, aber ebenso unübersehbar versucht Jost hier etwas Eigenes und weiß genau, was sie tut (dass Weg gleichzeitig auch ein Didi & Stulle-Abenteuer ohne offensiveren Wahnsinn erinnert, liegt dagegen vermutlich an einer ähnlichen grundsätzlichen Sensibilität). Elegant und mit scheinbarer Leichtigkeit jongliert Jost mit schweren Themen und Genreversatzstücken, so dass sich Weg bis kurz vor Schluss einfach gut liest, gut aussieht, originell ist und wirkt, ohne analysiert werden zu müssen.

Die Reise durch innere Abgründe als Irrfahrt durch eine verwirrend vertraute Fantasywelt ist eines der ältesten Muster der Literatur; auf naive Art gehören wenigstens streckenweise die Offenbarung in der Bibel und die Göttliche Komödie von Dante Alighieri zu diesem Genre. Reflektiertere und psychologisch beschlagene Versionen tauchen in Sandman, Hellblazer und generell in der Hälfte aller der VertigoComics aus den 1990-ern auf (die andere Hälfte handelt dann davon, dass Reiche Arme jagen und essen, häufig mit okkulter Unterstützung, was ja auch mal thematisiert werden muss). In dem britischen Film Die Zeit der Wölfe von 1984 irrt ein pubertierendes Mädchen im Schlaf durch einen Märchenwald und findet überall immer nur Werwölfe, Werwölfe, Werwölfe (es ist einer meiner Lieblingsfilme). In Hinter dem Horizont erlöst ein Witwer mit dem Gesicht von Robin Williams seine Frau aus ihrer Selbstmörderinnenhölle. Für Der Junge und der Reiher von Hayao Myazaki und seine Schachtelwelten voll toter Mütter, verschwundener Künstler und schwer symbolischer Meere gab es im Frühjahr einen wohlverdienten Oscar (und es hätten ruhig noch ein paar mehr sein können). Jost fügt in Weg dieser Linie ein paar schöne neue Schnörkel hinzu (riesige verständnisvolle Schafe, Menschen in verschiedenen Stadien der buchstäblichen depressiven Versteinerung) und scheint bis zum letzten Viertel des Bandes sowohl auf einen befriedigenden, die Einfälle bündelnden Schluss als auch auf eine Aussage über psychisch Kranke, ihre Angehörigen und was sie verbindet, hinauszulaufen.

Doch als die Geschichte die größte Krise erreicht, als Malin sich und Sybil zu verlieren droht, reißt Jost rabiat das Steuer herum, lässt ihre Heldin einschlafen und die Schwester auf wundersame Weise nach Hause zurückkehren. Satte sechzehn Seiten lang verbummelt Jost im Anschluss an die nun verfahrene Erzählung mit einem etwas richtungslosen Epilog im „wahren Leben“, dann kommen die Danksagungen und die Doppelseite mit den Anlaufstellen für psychisch Kranke und ihre Angehörigen.

Glaubwürdige, spannende Fiktionen mit Hand und Fuß gibt es immer viel zu wenige, von brauchbaren komplexen Analogien für psychische Krankheiten ganz zu schweigen. Das Gleiche gilt für Fantasiewelten, die weder nachgeahmt noch schlecht verleimt sind. Und wer sich die Fähigkeiten und die Geschichten dafür erarbeitet hat (auf Bäumen wachsen die nun wirklich nicht), hat eigentlich die Pflicht, sie mit Respekt zu behandeln. Der deutschsprachige Raum aber ist, seien wir ehrlich, immer noch Provinz, wenn es um erfundene Geschichten geht. Und so wird es Jost vermutlich hoch angerechnet werden, dass sie ihre Geschichte der ausbuchstabierten Bitte um Verständnis für psychisch Kranke, für Alltagsbezug und Servicenummern geopfert hat.
Das ist ein grundsympathischer und schön gestalteter Band, der hoffentlich Betroffenen und Angehörigen helfen wird. Aber das hätte sehr leicht ein echter Ausnahmecomic sein können (und ein Lieblingscomic für mich und vielleicht für dich).

Ein bisschen wie Hilda in der Hölle der Depressionen: stilsichere, originelle und charmante Psychofantasy, die etwas hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt

8von10Weg
Edition Moderne, 2023
Text und Zeichnungen: Rina Jost
108 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3-03731-253-7
Extra zu Weg auf der Verlagswebsite: Zusatzmaterial, Kommentare und Gesprächsideen

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