2014 erschien Marc-Antoine Mathieus Richtung – sein „weißes Album“, das ohne Worte und nennenswerte Handlung auskam. Nicht mal einen richtigen Titel hatte das Buch. Der Titel wurde dem Buch nur behelfsmäßig gegeben, damit man im Handel überhaupt sagen konnte, was man bestellen möchte. Nun ist mit Deep Me Mathieus „black album“ erschienen.
Deep Me verweigert sich über weite Strecken der grafischen Darstellung, stattdessen gibt es schwarze Panels und damit korrespondierende Texteinblendungen. Mathieu kann es nicht lassen: Er muss um Gedeih und Verderb die Grenzen des Mediums ausloten. Davon mag sich der ein oder andere sicher verschaukelt fühlen, denn schwarze Panels entsprechen kaum dem Zeichenstil, für den wir Mathieu schätzen. Da will es der Künstler wirklich wissen.
Aber solche Stilexperimente sind nicht neu: Shane Simmons hat schon in den 90ern in seinen Longshot Comics (dt. Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers) gezeigt, dass man eine Geschichte auch mit Hilfe von winzigen rechteckigen Panels nur mit sprechenden Punkten erzählen kann, von Lea Wegner haben wir gelernt, dass eine Graphic Novel nur mit Kinderzeichnungen möglich ist, und Warren Craghead III und Lydia Daher haben demonstriert, dass man Stimmungsbilder auch aus Buchstabenkaskaden bilden kann und das ganze kann immer noch der Gattung Comic zugerechnet werden, wenn auch mit einer starken Schlagseite Richtung konkreter Poesie. Marc-Antoine Mathieu macht da nichts anderes. Erlaubt sei aber die kleine, aber bedeutende Anmerkung, dass wir von Mathieu formvollendete Grafik auf höchstem Niveau gewohnt sind, während wir von vielen anderen Akteur*innen nicht wissen, inwieweit sich deren Talent in der Freude am Experiment erschöpft – was deren Leistung nicht schmälern soll: Die Welt braucht solche Erneuerer und Impulsgeber dringend.
Erinnert sei hier auch an Ennio Morricone, der in den 1960er Jahren den Unfug der konkreten Musik aufgriff und diese in fabelhaften, experimentellen Filmmusiken zum Einsatz brachte. Unvergessen das rostige metallene Quietschen, überhaupt die Geräusche im Soundtrack zu „Der Gehetzte der Sierra Madre“, legendär auch die Geräuschgewitter, mit denen er zahlreiche Gialli musikalisch unterfüttert hat. Der ihm gewidmete Film „The Maestro“ von 2022 legt darüber hinaus anschaulich dar, dass gerade die Eröffnungssequenz von „Spiel mir das Lied vom Tod“ eine Talentschau dessen ist, zu was die neue Musik bzw. musique concrete in der Lage ist. Der richtige Kontext macht eben auch aus Geräuschen Kunst. Ähnlich verhält es sich mit Mathieus schwarzen Panels.
Mathieu nutzt den limitierten Spielraum maximal aus, indem er uns mit dem inneren Monolog eines Menschen konfrontiert, der augenscheinlich im Wachkoma liegt, aber außer Geräuschen und Gesprächen keine Sinneseindrücke registriert. Die Übertritte von Dämmer- in Wachzustände werden effektiv durch Schattierungsverläufe in der Panelumrandung veranschaulicht, auch das Phänomen der veränderten zeitlichen Wahrnehmung findet sich darin widergespiegelt: Manchmal friert die Zeit ein, dann wieder stehen vereinzelte Passagen wie Inseln nebeneinander, ohne dass eine Verknüpfung möglich scheint.
Die Überlebensstrategien, die unsere auf sich selbst zurück geworfene Erzählfigur entwickelt, um geistig wach zu bleiben, dabei aber nicht den Mut zu verlieren oder gar wahnsinnig zu werden, sind von Mathieu so treffend wie plausibel gestaltet. Meiner Meinung hätte es des Twists ab der Mitte der Geschichte nicht bedurft, denn bis zum überraschenden Wendepunkt ist die Darstellung von zwingender Klarheit und selten gesehenem Einfühlungsvermögen. Danach wird es unnötig kompliziert und verliert mich als Leser zunehmend. Vermutlich aber hätte Mathieu ohne die zweite Hälfte die erste nie gestaltet. Schlussendlich bleibt es eine Frage des Geschmacks und ändert nichts an Marc-Antoine Mathieus kraftvoller Erzählkunst, die mühelos aussieht, aber große visionäre Kraft hat.
Zuletzt sei auch den Zweiflern gesagt: Was stört es eigentlich, dass dieses Buch zu mindestens 70% aus schwarzen Panels besteht und der Rest aus sich wiederholenden und variierenden Redundanzen besteht? Innerhalb seines Gesamtoeuvres nehmen die schwarzen Panels doch nur einen verschwindend geringen Teil ein. Es wäre doch schade, würde man sich dieser Facette von Mathieus Experimentierfreude verweigern: Nahrung für den Kopf gibt uns Mathieu wie gewohnt reichlich. Langweilig geht anders.
Wo Comic aufhört und konkrete Lyrik anfängt
Reprodukt, 2023
Text und Zeichnungen: Marc-Antoine Mathieu
Übersetzung: Hanna Reininger
120 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24 Euro
ISBN: 978-3956403781
Leseprobe
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