Christian: Warum eigentlich ist Trine Piils Verfilmung von Janne Tellers Roman Nichts so gut? Ebenso wie das Buch stellt der Film Fragen ans Publikum, gibt aber keine Antworten. Vor allem die wenigen, aber eindringlichen Akzentverschiebungen gegenüber dem Roman lassen den Film viel dringlicher wirken als die Vorlage, die viel eher noch als zeitlose Parabel gelesen werden kann.
Ganz frappierend ist das bereits am Anfang, wenn die Kinder, von denen Nichts handelt, mit der Frage, was sie denn einmal werden wollen, überfordert sind und ihnen aber auch der Lehrer keine Hilfestellung geben kann: „Denkt selbst“ gibt er die Frage zurück, was pädagogisch durchaus nicht völlig daneben ist – aber die zerrütteten Umstände der Gegenwart gestatten nicht mehr das bloße Beibehalten der Routinen von früher, als das „Selbst denken“ wie eine Art Initiation zum Erwachsenwerden noch funktioniert hat. Ob es stimme, dass K.I. in Zukunft die Arbeit von Richtern und Anwälten übernimmt, wird da gefragt, worauf der Lehrer nur ausweichen kann; vom steigenden Meeresspiegel ist die Rede, der Dänemark bedroht; Fridays for Future und die Corona-Pandemie sind noch präsent. Wenn dem Lehrer dazu nur ein „Denkt selbst“ einfällt, dann ist Pierre Antons Ausstieg doch eine sehr vernünftige Entscheidung. Offensichtlich hat der Lehrer und die Gesellschaft, die er repräsentiert, den Kompass verloren. Die Kinder sind lost.
Nach Pierre Antons radikalen Bruch wollen die anderen Kinder ihn wieder zurück holen in ihre Mitte. Pierre Anton sitzt von nun an auf seinem Baum und belehrt mit defätistischen Aussagen, dass es keinen Zweck habe zu lernen und dass wir alle nur Kopien seien von Kopien. Die anderen wollen ihm aber beweisen, dass es Dinge gibt, für die es sich zu leben lohnt. Erst demonstrieren sie das an Hand von allerhand Krempel, der inzwischen jedoch für jeden nicht mehr wirklich Bedeutung hat. Später sammeln sie Dinge, die ihnen wirklich etwas bedeuten und steigern sich in eine furchtbare Spirale hinein, indem sie Dinge preisgeben, die zu ihrem innersten Wesenskern gehören.
Die Grenzen, die überschritten werden, sind zunehmend monströs: einen schönen Sommer zu opfern, indem man seine schönsten Sandalen abgibt, ist bitter, aber andere opfern das Vertrauen, das ihre Eltern oder andere Bezugspersonen in sie setzen; wieder andere opfern ihre religiöse Identität, später geht es auch an die körperliche Unversehrtheit. Ein Mädchen, Sophie, wird im Prozess der Gruppendynamik zum Sex mit einem Mitschüler genötigt, was in der Situation alles andere als einvernehmlich ist. Im Anschluss daran wirkt Sophie völlig dissoziiert von ihrem früheren Selbst und entwickelt sich auch besonders blutrünstig. Sie ist die treibende Kraft dahinter, dass zuletzt der Hund geköpft und einem Mitschüler sein Gitarrenfinger abgehackt wird, die letzten Opfer, bevor das groteske Spiel auffliegt und der letzte Akt des Dramas eingeleitet wird: Die Entdeckung der Opfergaben durch Journalisten, die darin ein authentisches Symbol erkennen, dass die Jugend sich nur noch durch derartig selbst geschaffene Initiationen definieren kann.
Soweit ist die Entwicklung des Films eine ganz ähnliche wie im Buch, aber es gesellt sich eine weitere Dimension dazu, denn im Film sind Smartphones allgegenwärtig. Der „Haufen der Bedeutung“ landet auf den Social Media-Kanälen, ein Hype entsteht. Schüler auf aller Welt werden jetzt aufgefordert, ihre eigenen „Haufen der Bedeutung“ zu erstellen, was aber den Wert der erbrachten Opfer viel schneller in sich zusammenfallen lässt, als dies im Buch der Fall war, wo Pierre Anton seine Mitschüler verhöhnt, dass sie das, was ihnen am wichtigsten ist, für schnödes Geld preisgegeben haben. Die Pointe des Films ist, dass sich die Kinder durch ihren „Haufen der Bedeutung“ in der Rolle von Influencern wiederfinden, womit sogar die Frage danach beantwortet wird, was für berufliche Perspektiven man denn noch hat, wenn K.I. nun gerade die akademischen Berufe obsolet macht: Werdet doch Influencer!! Füttert die Maschine mit Content oder geht in die Wartung, viel mehr hat die Zukunft nicht zu bieten. Dass der Film in der Lage ist, diese Dimension offenzulegen, verleiht ihm eine enorme Relevanz. „Nichts“ ist der richtige Film zum richtigen Zeitpunkt.
Wie im Buch so sitzt auch im Film Pierre Anton wie ein antiker Philosoph auf seinem Baum, aber es geschehen dabei ein paar Dinge, die im Buch nicht zu finden sind. Schon in einer der ersten Nächte kommt Sophie – diejenige, die später ihre Unschuld opfern muss – nachts heimlich an Pierres Baum, zieht sich die Bluse aus und bietet sich ihm an, wenn er doch nur nach unten klettert. Pierre Anton lehnt ab. Später, nachdem das schreckliche Geschehen von der Polizei gestoppt worden ist, gelingt es Agnes, Pierre Anton nach unten zu bewegen und die beiden fahren gemeinsam auf einem Fahrrad. Es ist eine schöne Szene, fast eine Liebesszene, die gar für einen kurzen Moment Hoffnung durchscheinen lässt, und beide Begegnungen machen auch deutlich, dass Pierre Anton mit seiner kraftvollen Haltung einiges hätte gewinnen können. Andererseits muss das Happy End aber ein leerer Traum bleiben, denn Pierre Anton ist keine Figur, die ins bürgerliche Leben zurückkehren sollte. Dafür ist seine Haltung ein zu starkes Symbol. In der Hinsicht gleicht er Hermann Melvilles Bartleby eigentlich erstaunlich stark.
Die vorübergehende Entwicklung der Mitschüler in Bestien, die sich beinahe gegenseitig zerfleischen, wird dagegen recht schnell wieder abgewickelt. Ihre Eltern impfen ihnen ein, dass sie keinerlei Verantwortung an Pierre Antons Tod haben, was eine glatte Lüge ist, und schon sind sie wieder auf Spur und folgen ihren vorgezeichneten Lebenswegen – Kopien von Kopien sozusagen. Die Sünde ist aber nicht mehr, wie im Buch, dass sie die Dinge, die ihnen wirklich etwas bedeuten, für Geld preisgegeben haben, sondern ,dass sie die Bedeutung gegen Clicks getauscht haben. Damit ist die Transformation des Bedeutendsten zur völligen Beliebigkeit vollendet. Das ist der echte Nihilismus. Pierre Antons Verhalten ist das Gegenteil davon.