Die schönsten Reisen in H.P. Lovecrafts kosmische Welten waren stets diejenigen, die jenseits der Mauer des Schlafs stattfanden, bilden doch Schlaf und Traum die glaubwürdigste Barriere zwischen dem Hier und dem Dort. Luzides Träumen ist nahe an der eigenen Erfahrungswelt und die Reise in Traumwelten auf diese Weise plausibel und nachvollziehbar. Oft hat H.P. Lovecraft Zustände dieser Art beschrieben.
Anders verhält es sich, wenn die fremde Welt über ein begehbares Portal ähnlich einem Stargate betreten wird. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, welche Technologie oder sonstige Teufelei nötig ist, ein solches Portal zu installieren. Glaubwürdiger sind Geschichten mit konkret fassbaren Portalen nicht, doch sind natürlich auch in solchem Kontext großartige Geschichten über Grenzüberschreitungen erzählt worden. In den Geschichten, die Clark Ashton Smith zu Lovecrafts Cthulhu-Mythos beigetragen hat, gibt es immer wieder Portale, beispielsweise die Tür im Turm des Zauberers Eibon, die geradewegs auf den Saturn führt. Lovecraft hätte das wohl eher nicht auf diese Weise erzählt, aber das ist auch gut so: Die Geschichten Klarkash-Tons, wie Lovecraft seinen Schriftstellerkollegen liebevoll zu nennen pflegte, sind eine Entdeckung wert.
In Sebastian Dietz‘ großer Lovecraft-Erzählung Yuggoth Rising gibt es beides, Traumreisen und Portale. Aber auch wenn die Traumreisenden noch eher die Kontrolle über ihre Erfahrungen haben als die Wissenschaftler, die bisweilen recht planlos vor ihrem Portal stehen, so scheint doch jeder Pfad gleichermaßen in den Untergang zu führen, so wie ja auch die „Door in the Floor“ in John Irvings Witwe für ein Jahr bereits durch ihre bloße Existenz den Untergang einleitete.
Im zweiten Akt von Sebastian Dietz‘ Neunteiler – der vorliegende Band umfasst die Kapitel 4 bis 6 – nimmt der Plot ordentlich Fahrt auf. In New York gibt es eine geheime Militärbasis, die unter den Armen der Bevölkerung nach geeignetem Menschenmaterial sucht, um mit den Wesen jenseits des eingangs erwähnten Stargates Kontakt aufzunehmen, und währenddessen spürt in Südamerika ein Sprachenforscher einer uralten Kultur von Schlangenmenschen nach. Allein die Indios scheinen mehr zu wissen, als sie zunächst preisgeben, auch das ist natürlich ein ganz typischer Topos bei Lovecraft.
Dass Dietz seine Reise in den Wahnsinn lovecraftscher Prägung sehr präzise strukturiert hat, lässt sich gut nachvollziehen, wenn man sich nur genügend Zeit mit dem akribisch zusammengestellten Begleitmaterial nimmt, das jedem Kapitel hintenangestellt ist. So endet Kapitel 1 mit einem wissenschaftlichen Aufsatz über Wissenschaftler, die die Maya-Glyphen zu entschlüsseln suchten, größtenteils Namen tatsächlicher Personen, so z.B. der deutsche Historiker Ernst Förstermann, von dem zu lesen ist: „[E]r trat eine Reise im Kopf an, und gelangt so zum Geist der Maya.“ Die Traumreise ist entsprechend zunächst völlig in der Realität verortet. Das phantastische Element sickert schleichend ein.
Yuggoth Rising enthält zahlreiche Easter Eggs, die unaufdringlich genug sind, nicht zu stören, den Genrefan aber dennoch begeistern. So freut sich so mancher in Kapitel 3 über den Auftritt eines italienischen Forensikers namens Signore Dulci, natürlich ein kleiner Headnod in Richtung des Regiesseurs Lucio Fulci, dessen Horrorfilme den Lovecraft-Kosmos ja um einige nachhaltige Eindrücke bereicherte. Damit weckt Sebastian Dietz natürlich Erwartungen, die er auch zu bedienen in der Lage ist.
Weitere Easter Eggs:
- Ein Altertumsforscher hat den Namen Sandoz. Sandoz war der Pharmakonzern, der in den1950ern LSD herstellte, womit schon wieder ein Portal zu (Alb-)Traumwelten wenigstens angedeutet ist. Professor Sandoz kann nur in äußerst abgekühlten Räumen leben, eine klare Anspielung auf Lovecrafts „Ein kühler Hauch“, wo ein Mr Munoz mit ganz ähnlichem Temperaturproblem vorkommt. Sandoz‘ Mimik indessen ist eher Dr. Strangelove entlehnt.
- Dietz maßt sich an, einen Textauszug aus Friedrich W. von Junzts „Von Unaussprechlichen Kulten“ wiederzugeben. Damit stellt er sich auf eine Stufe mit Clark Ashton Smith, der bereits in den 1930er Jahren Kapitel aus dem schrecklichen „Buch Eibon“ öffentlich machte. Im Textauszug nimmt von Junzt (oder Dietz?) Bezug auf die „Fürsten der Dunkelheit“, was gleichzeitig der (deutsche) Titel eines Horrorfilms aus den 1980ern ist – meiner Meinung nach John Carpenters bester Film. Es ist alles ein dichtes Netz.
- In Yuggoth Rising gibt es einen Überlebenden einer Expedition nach Südamerika, die im Albtraum endete. Dieser Überlebende, ein Student namens Glenworth, ist aufgrund seiner Erlebnisse wahnsinnig geworden. Nun sabotiert er die Sekte der Träumer, damit diese ihren perfiden Plan, die Großen Alten zu erwecken, nicht realisieren können. Glenworth fällt vor allem durch seine Vorliebe zur Übertötung auf: Warum jemanden erschießen, wenn man ihn auch mit S-Draht enthaupten und gleichzeitig im Fluss versenken kann. Ähnlich ruppige Action dieser Art kenne ich sonst nur aus Dario-Argento-Filmen. Die Autoverfolgungsjagd mit diesem Glenworth machen die zweiten Hälfe des sechsten Kapitels zum Pageturner, die Action dabei mit perfekter Blickführung in Szene gesetzt.
- By the way: Glenworth, so erfahren wir, hat sich sein Kostüm von einem 1930er Jahre Comicstrip namens Specter angeeignet. Folgerichtig erhalten wir als Leser im Anhang auch eine vierseitige Specter-Story zu lesen, die im schlichten Stil der frühen Terry-and-the-Pirates-Folgen gezeichnet ist. Das kann man nur liebevoll nennen.
Mit all diesen kleinen Anspielungen webt Dietz eine dichtes Netz, das dem inneren Kosmos seiner Story Kohärenz verleiht. Zeichnerisch ist er dabei im Mittelteil seiner Trilogie noch gereift. Zwar wirken seine Figuren zum Teil immer noch püppchenhaft und Proportionen sitzen nicht immer exakt, doch lässt sich dies beinahe schon als Stilmittel deuten und erinnert manchmal gar an die Optik eines Richard Corben. Was Dietz hingegen zunehmend großartig von der Hand geht, ist der Panel- und Seitenaufbau. Nicht wenige Bilder sind exakt komponiert, groß angelegt, oft in interessanten Perspektiven. Den einen oder anderen grafischen Ausrutscher verzeiht man da ebenso gerne wie den einen oder anderen überzogenen Spezialeffekt in einem Fulci-Film. Für Horror-Buffs ist Yuggoth Rising großes Kino.
Es ist nicht zu viel gespoilert, wenn ich verrate, dass auch die bereits erschienen Kapitel 7 bis 9 einen rundum gelungenen Abschluss bieten. Zu beziehen ist Yuggoth Rising auf Comic-Festivals. Auch bei ausgewählten Shops wie comicexpress.de sind die Paperbacks zu erwerben. Bei Amazon findet sich die Kindle-Version.
Lovecraft-Fans sollten nicht zögern
Undergroundcomix, 2020
Text und Zeichnungen: Sebstian Dietz
104 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 13,00 Euro