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Jonas Valentin – Gesamtausgabe Band 1

Haben wir uns diese prächtige Wundertüte mit den trippigen Abenteuern von Spirous kleinem Öko-Bruder wirklich verdient?

Alle Abbildungen © Splitter Verlag

DISCLOSURE 1: Dieser Prachtband enthält tatsächlich lediglich zwei der fünf einst bei Carlsen Comics erschienenen Bände der belgischen Serie Jonas Valentin – ja, die fantastische Nacht der Katze folgt erst im zweiten Band der Gesamtausgabe, die im September 2022 erscheinen soll. Allerdings kosten diese Bände antiquarisch im schlecht geleimten Softcover, grell gedruckt und in freierer Übersetzung genau so viel, und das hier vorliegende Zusatzmaterial ist schlichtweg spektakulär.
DISCLOSURE 2: Das in diesem Band enthaltene Album Der Traum des Wals war in den Jahren nach seinem Erscheinen in Deutschland mein Lieblingswerk der Popkultur, wenn nicht mein Lieblingsstück Kultur überhaupt. Ich empfand diesen Comic auf schon einschüchternde Weise als meins (wie konnten Frank und Bom in mein Herz und meinen Kopf gucken?) und als genau das Richtige. Das prägt.

1972, gerade, als der Gegenkultur und der Popkultur merklich die Puste ausgingen, veröffentlichte der Club of Rome seine Mahnschrift Die Grenzen des Wachstums, die auf damals neuartige Weise Ressourcenknappheit und Umweltprobleme prognostizierte. Ein Jahr später veröffentlichte der 17jährige angehende Comiczeichner Frank Pé (damals noch ohne Nachnamen unterwegs) seinen ersten satirischen Zweiseiter über umweltfeindliche Bananenzucht in der Nachwuchsrubrik des Traditionsmagazins Spirou.

1977, im Jahr des Punk, schmuggelten der legendäre bilderstürmerische Ex-Chefredakteur von Spirou, Yvan Delporte (immer wieder wichtig: keiner schrieb die Schlümpfe besser), und Starzeichner André Franquin eine wilde wöchentliche Beilage in die Traditionszeitschrift: Le Trombone Illustré. Diese „illustrierte Trompete“ war ästhetisch experimentell, inhaltlich satirisch und insgesamt ziemlich underground. Der Verlag Dupuis zog bereits nach wenigen Monaten den Stecker.

Ein Jahr später moderierte Frank Pés frisch erfundener Serienheld Jonas Valentin (eigentlich „Brousaille“= Gestrüpp, irgendetwas zwischen „Waldschrat“ und „Strubbel“) als Teil einer neuen Welle von Ideen für Spirou eine Rubrik von reichhaltig illustrierten kurzen Artikeln über Natur, Tiere und Umweltschutz. Mit seinen orangenen Haaren und seiner verdutzt-beflissenen Art ist Jonas ein deutliches Stand-In für das Maskottchen der Zeitschrift, ist dabei aber wesentlich introvertierter. Wo Spirou rennt, flaniert er.

Auf den ersten Seiten dieser Rubrik (sie sind alle hier enthalten) zeigt sich Frank Pé als konkurrenzlos begnadeter Tierzeichner, der das Staunen angesichts einer anderen Kreatur genauso perfekt aufs Papier bannen kann wie die sympathische Absurdität der Tierwelt, ohne sie über Gebühr zu verniedlichen. Er ließ damit selbst Altmeister Franquin eine ganze Generation hinter sich.

Im weiteren Verlauf der Reihe gerieten die Aufzeichunungen von Jonas Valentin, immer häufiger ausgewachsene Comics, jedoch mehr und mehr zu spielerischen Meditationen über das Erleben von Natur und das Zusammenkrachen von Subjekt und Umwelt (und sehr vielen Tieren).

Durchaus etwas didaktisch zelebriert Jonas die Stunde der wahren Empfindung, wenn er einen Bus in der Pampa verpasst und anschließend lernt, seine Umgebung (voller Tiere) aufmerksam anzusehen und anzuhören. Das ist luftig, atmosphärisch und immer getragen von Frank Pés Bemühungen, die Bilder und die Blätter darauf organisch ineinander wachsen zu lassen und mit Panelformaten und Bildausschnitten zu experimentieren. Als er mit dem an Mythen und Mysterien interessierten und dabei gleichzeitig durch und durch modernen Texter Bom zusammentraf, war Jonas reif für echte Abenteuer.

Diese machen nach einem wunderbaren Sammelsurium an Skizzen, Bildern, Artikeln, Kurzcomics, und einem langen, interessanten Sachtext (und neben einem bizarren, aber faszinierenden Kurzcomic über die Ästhetik von Arnold Böcklin) den zweiten Teil des vorliegenden Bandes aus.

Frank und Bom waren in ihren Zwanzigern und wollten, wie es Jean-Pierre Abels in seiner ausführlichen Einleitung deutlich macht, sehr bewusst neue Kindercomics in der Tradition „von Franquin und Peyo“ entwickeln, während alle anderen von Erwachsenencomics träumten. Und gleichzeitig wollten sie einen „belgischen magischen Realismus“ erfinden, während Marquez und Allende in den Bestsellerlisten standen, Benneix und Lynch in den Kinocharts. Die Geschichten um Jonas Valentin sind Folk Horror ohne Horror, die Geheimnisse der Natur und die von früheren menschlichen Kulturen unterwandern und durchdringen eine sanft karikierte Alltagswelt, die mit jedem genaueren Hingucken poetischer und geheimnisvoller wird. Das kleine Wunder der Serie besteht darin, dass die Geschichten luftig und witzig bleiben. Staubige Museen sahen nie einladender aus, sonnengeflutete Wanderwege nie befreiender.

Jonas Valentin, das als Warnung für Novizen, ist ein langsamer Comic, so wie frühe Canardos oder die Werke von Cosey. Jede Seite will betrachtet und durchstreift werden, und das immer wieder. Sequenzen erinnern an ruhige, ausladende Kamerafahrten. Setting und Tiere sind dabei trügerisch realistisch gezeichnet, dazwischen laufen knubbelige Funny-Figuren herum. Überall springen auffällig herausgearbeitete Details ins Auge: von Pflanzen am Bildrand bis zu rätselhaften Schriftzeichen auf einem Buch.

Und Jonas Valentin kennt keine Schurken, keine Daltons, Römer und Zykloptrope. Antagonisten spielen wie die Rocker in Band 1 im Grunde keine Rolle oder treten wie die mutmaßlichen Terroristen in Band 2 nie auf. Die eigentlichen Konflikte sind hier immer intrapsychisch oder symbolisch, aber werden trotz aller Traumlogik wie eine klassische Handlung und relativ bodenständig erzählt – dann muss Jonas halt den geheimnisvollen Kristall zum richtigen Zeitpunkt finden. Mittlerweile kennen wir diesen pragmatischen Umgang mit recht abstrakten Elementen aus Videospielen, damals war noch nicht einmal das erste Zelda erschienen.

Es lässt sich kaum noch nachvollziehen, wie neuartig und unverschämt (und chic!) diese Mischung aus Spiritualität und Slapstick, Geschichten und Eindrücken einmal war, und wie wenig Mainstream das hier propagierte ganzheitliche Umweltbewusstsein. Eine weitere, hier von Frank Pé herausgestrichene Besonderheit war eine dezente Sinnlichkeit in der Beziehung zwischen Jonas und seiner Freundin, die allerdings erst in den letzten Abenteuern (also im abschließenden zweiten Album dieser Ausgabe) wirklich zum Tragen kommt. Hier zieht sich Valerie nur einmal unmotiviert um, was damals für einen Kindercomic tatsächlich gewagt war (heute ist Valerie einfach viel zu dünn und erinnert ungut an das verstörende Bild eines nackten Mädchens in Frank Pés ansonsten großartigem Spirou spezial: Das Licht von Borneo).
Der Kurzcomic Die Kapelle der Katzen ist nett, aber eher eine Fingerübung und untypisch flott, darauf folgen die Alben Der Traum des Wals und Die Hüter des Lichts.

Der Traum des Wals ist ein Meisterwerk. Die Menschen in Brüssel haben fischige Alpträume, und Jonas Valentin hat neben Alpträumen auch noch Visionen von durch die Luft fliegenden Fischschwärmen in der Stadt. Ein altes Buch führt ihn zu einer verborgenen Grotte und dem ebenfalls nach den Ursachen der rätselhaften Phänomene forschenden Mädchen Valerie. So freundlich verrückt und romantisch konnten wir uns mal die Welt vorstellen. Der Traum des Wals tänzelt mit traumwandlerischer Sicherheit anheimelnd unheimlich am Kitsch vorbei und erlaubt sich keinen falschen Schritt.

Die Hüter des Lichts ist ein gemischteres Vergnügen. Jonas besucht seinen Onkel auf dem Land, und der hat fiese Laune wegen einer „Recycling-Fabrik“, die kurz vor der Einweihung steht und auf die sich die freundlichen Ökos der Gegend bereits freuen. Warum? Die Auflösung des Rätsels gerät überkonstruiert, gewollt und weltanschaulich schwierig: Die Hüter des Lichts flirtet, wie frühere naturromantische Literatur, mit Ideen der Gegenaufklärung (die Statue eines Heiligen und böse Jakobiner zur Zeit der französischen Revolution spielen eine wichtige und unklare Rolle) und der Esoterik. Dazu scheint die Geschichte ein frühes und ungelenkes Plädoyer für einen grünen Kapitalismus zu sein. Dass sie trotzdem unterm Strich noch gelungen ist, verdankt sie dem nettesten Schwein und den echtesten Waldlichtungen, die je gezeichnet wurden, guten Figuren, einigen verblüffenden Experimenten mit dezent trippigen Sequenzen und der absoluten Unfähigkeit der Serie, dumpf, stumpf und schrecklich zu sein.

Wer gern gezeichnete Tiere anschaut, muss sich dieses Buch vermutlich neben das Bett oder auf den Kaffeetisch legen. Genau wie jeder, der Comics wie Musik als Stimmung und Eindruck genießt. Dann kommen noch die dazu, die genau diese Serie und genau diese Geschichten mögen oder mögen könnten und hier mehr bekommen, als sie jemals zu wünschen wagten. Nur, wer Jonas/Brousaille partout für einen lahmen Ökosnob hält, kann sich über diesen neuen Goldstandard für Werkausgaben beschweren, wird aber vielleicht doch noch bekehrt. Und wer, verständlicherweise!, meint, 9 von 10 Punkten wären dann doch zu wenig, der soll mir bitte einmal die Handlung von Die Hüter des Lichts erklären.

Stylishe Alltagsmärchen voller Witz und Naturmystik im elegant überladenen Paket mit traumhaften Skizzen, Informationen über Tiere und einem Batzen Comicgeschichtsschreibung

9on10Jonas Valentin Gesamtausgabe 1: 1978–1987
Splitter, 2022
Zeichnungen: Frank Pé, Text: BOM
Einführungstext: Jean-Pierre Abels
Übersetzung: Max Murmel, unter Hinzuziehung der Albenübersetzungen von Uta Schmid-Burgk
272 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 49,00 Euro
ISBN: 978-3-96729-180-9
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