Unsere Autoren Jan-Niklas Bersenkowitsch und Gerrit Lungershausen sind sich uneinig. Nachdem sie das SF-Comic-Debüt Radius von Katrin Gal gelesen haben, sehen sie unterschiedliche Stärken und Schwächen.
Gerrit: Radius spielt in einer unbekannten Zukunft auf einem fremden Planeten, der lange vor Beginn der Handlung von Menschen kolonisiert worden ist. Dort hat man ein mehrschichtiges Gesellschaftssystem errichtet, das auf religiöser Verehrung, Ausgrenzung und Unterdrückung basiert, während der Planet in seiner Topographie die günstigen Rahmenbedingungen für eine bipolare Sozialstruktur schafft: Durch einen „offenen Kern“ ist die Oberfläche des Planeten durchbrochen und teilt den Planeten in zwei Hälften: Nova, die Heimat der Privilegierten, und Avon, die Zuflucht der Entrechteten. Die avonianische Arbeiterklasse leidet unter der Herrschaft der novaischen Upper Class, deren Privilegien auf dem Prinzip der edlen Abstammung beruhen. Es kommt, wie es kommen muss, zu Aufständen, in deren Zuge eine biologische Manipulation der Atmosphäre durch die Novianer misslingt und dazu führt, dass die Avonianer entweder (soweit plangemäß) sterben oder (ganz und gar nicht in deren Sinne) zu gefährlichen Cyborgs mutieren. Und jetzt gehts’s rund.
Niklas: Uff, das ist viel Stoff für einen ersten Band und Gal zeigt auch, dass sie den Leser*innen ein sehr komplexes Szenario präsentieren möchte. Das ist ja erstmal nicht schlecht, aber ein Viertel des Bandes geht für die Vorgeschichte des Planeten und die Erläuterung der politischen Verhältnisse drauf, die Biographie einer Figur gibt es obendrauf und dann geht endlich die Haupthandlung los. Die dreht sich um den Einsatz einer Spezialeinheit, den sogenannten Hellhounds, der natürlich gehörig schief läuft. Angeführt wird die vierköpfige Truppe von Tom, einem jungen Mann mit Augenklappe, und dann wird geschossen und explodiert. Also, bist du neugierig geworden? Interessieren dich die Figuren und das Szenario?
Gerrit: Mir hat die Ausführlichkeit, mit der Gal die Welt in Bilder setzt, sehr gut gefallen, weil Dystopien davon leben, dass man sich als Leser in dieser fremden Welt auch orientieren kann. Und trotz aller Liebe zum Detail hat das Szenario Lücken gelassen, die bei mir Fragen aufwerfen: Wie genau kam es zu jener Revolution, deren Beginn die Autorin quasi im Vorbeigehen erzählt? Wie kam es zu den sozialen Ausgrenzungen, die diese Gesellschaft so sehr prägen? Wieso ist die Abstammung der einen edler als die der anderen, wo doch alle von der gleichen Gruppe abstammen? Vielleicht wird dies in den folgenden Bänden noch eine Rolle spielen. Ich finde außerdem die Idee ganz raffiniert, einen rätselhaft bleibenden Erzähler mit historiografischem Mehrwissen zu installieren, der die Vorgeschichte in aller Ausführlichkeit einer Gruppe von Zuhörern referiert. Als ein Nova-Aristokrat, der sich als „Meister“ bezeichnen lässt, verfolgt er seine ganz eigenen Ziele, indem er mit den Rebellen kooperiert. Mir gefällt es ganz gut, wie die Autorin keinen umständlichen Anlass konstruiert, um die Vorgeschichte erzählen zu lassen, sondern das ganz direkt und ohne Umschweife macht. Nach der 25-seitigen Vorgeschichte, die als „Prolog“ betitelt wird, folgt die Action, und die ist mir etwas zu wild: Die Figuren der Hellhounds („Wir sind Hellhounds. Wir schaffen das.“) sind mir zu austauschbar – hätten sie nicht sehr individuelle Frisuren, könnte ich die Haudrauftruppe kaum auseinanderhalten. Akraia, eine Schöpfung der Novaianer, die nun unter Kontrolle des „Meisters“ an der Seite der Rebellen kämpft, sticht noch hervor.
Niklas: Bei der Zurückhaltung widerspreche ich. Es wird ganz genau erklärt, wie es zur Revolution kam: eine rassistische Herrscherklasse wollte an die Ressourcen des südlichen Teils des Planeten; und die sozialen Ausgrenzungen resultieren unter anderem aus deren rassistischen Ideen. Gail sagt das recht offen und das ist auch okay, aber für die eigentliche Handlung des Bandes hat das keinerlei Relevanz. Es hilft auch nicht, dass das Ganze recht behäbig und unelegant ist, da der Erzähler sich an eine Gruppe von Menschen wendet, die bereits über die Geschehnisse Bescheid weiß. Das hätte auch anders gelöst werden können, vielleicht mit anderen Sprechern, in einer anderen Situation und auch weniger „erzählend“ als „gesprochen“, wenn du verstehst, was ich meine. Kürzte man die Vorgeschichte raus, wäre der Band nicht nur flüssiger zu lessen, sondern würde auch die interessanteren Fragen stellen. So aber werden die Fragen auf den ersten 25 Seiten gleich beantwortet, bevor es überhaupt losgeht.
Wer ist der Böse? Wird erzählt, selbst wenn sein Name noch nicht genannt wird, aber ich glaube nicht, dass diese Figur groß eine Wandlung durchmachen wird. Wer ist Akraia? Wird erzählt, auch wenn ihre Hintergrundgeschichte ein solides Mysterium wäre. Was sind die Ziele der Bösen? Wird auch gleich alles erzählt, womit der Band einen Großteil seiner interessanten Mysterien ausplaudert, bevor es überhaupt losgeht oder es von Relevanz ist.
Der Prolog macht aus meiner Sicht viel kaputt und verschwendet Seiten, die man für die Charakterisierung von Tom und dem Rest der Truppe hätte verwenden können. Denn mit denen wird man in zukünftigen Bänden wohl die meiste Zeit verbringen, und von denen wissen wir auch nichts, wie du schon richtig festgestellt hast. Es gibt einen Konflikt in der Truppe, aber der ist, wie der Prolog, irrelevant, weil wir noch keine Bindung zur Welt und den Figuren aufbauen konnten. Das ärgert mich, denn der eigentliche Einsatz ist kompetent erzählt und kommt auch ohne Erklärungen aus, um Leser*innen zu erzählen, wie diese Welt oder die Seuche funktioniert. In diesem Momenten zeigt Gal, welches Potential Radius besitzt, aber die Serie wird noch vom Bedürfnis, alles erklären zu müssen, zurückgehalten. Weniger wäre mehr.
Gerrit: Es kommt ja noch mehr, denn Comic-Debütantin Gal hat diesen als ersten von vier Bänden geplant. Der Erstling lag bereits im Selbstverlag in englischer Sprache vor, und die Autorin hat Radius für Splitter stark überarbeitet. Das ist schon das dritte interessante SF-Debüt (Frauke Berger: Grün; Cristin Wendt: Message) in letzter Zeit, visuell und architektonisch viel dichter an Message als an Grün, erzählerisch aber stärker als dieser. Der Vorwurf, mit dem Prolog zu viel Zeit zu vergeuden, wurde dem Comic schon mehrfach gemacht, aber ich denke, damit übersieht man, dass in dieser Bedächtigkeit gerade seine Stärke liegt. Weniger Action, mehr Charakterisierung. Wie stark die Zeichnungen sind, zeigt vor allem das Bonusmaterial, denn in der düsteren Kolorierung gehen viele Details verloren.
Niklas: Aus den eben genannten Gründen finde ich es nicht stärker erzählt. Und es ist eine Art, bedächtig zu sein und einfach nur Informationen rauszuhauen, die an sich noch keinerlei Bewandtnis für die Handlung haben. Bedächtig wäre, wenn wir Tom und Co. mehr in ihrem Alltag begleiten würden, bevor es losgeht. So ist es nur dröge Exposition. In Message hat man sich auf das Nötigste konzentriert, so dass wir wissen, wer die Hauptfigur ist und welche Motivation er besitzt. Hier haben wir eine grobe Skizze für mehrere Figuren und Stränge und werden gleichzeitig um mehrere Mysterien beraubt, die wir in den Folgebänden hätten herausfinden können.
Ich würde mir tatsächlich mehr Mut zum Nicht-erklären wünschen, denn das kann Gal, wie sie im zweiten Teil des ersten Bandes zeigt. Mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, dass Leser*innen schon Interesse an der Welt haben, denn da braucht sie keine Angst zu haben. Die Welt wirkt hochtechnisiert und gleichzeitig dreckig, die Form des Planeten ist ungewöhnlich und der ganze Konflikt um Technologie und Rassismus ist immer interessant und relevant. Ich hoffe aber auch, dass sie sich auf ein starkes Thema konzentrieren wird, denn jetzt gerade gibt es Andeutungen von Klassenkämpfen, Evolution und Rassismus, aber nichts davon ist jetzt so klar definiert, dass ich sagen würde „das ist es, da möchte ich mehr erfahren.“ Es ist eine super interessante Welt und weniger wäre mehr gewesen, weil der Band dann auch Raum zum Atmen gehabt hätte.
Fazit von Niklas:
Kompetent erzählt, aber krankt an zuviel Exposition
Fazit von Gerrit:
SF-Debüt mit Mut zur Ausführlichkeit
Splitter, 2019
Szenario & Zeichnungen: Katrin Gal
96 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 19,80 Euro
ISBN: 978-3-96219-321-8
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