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Zur Sonne

Wer zur Sonne strebt, stürzt auch dann tief, wenn er nicht Ikarus heißt. „Zur Sonne“ heißt die Kneipe, als deren langjähriger Wirt Frank allerlei sonderliche Nachtgestalten mit Bier, Schnaps und seiner aufmerksamen Gesellschaft versorgt.

Alle Abbildungen © Reprodukt

In Zur Sonne werden die Erlebnisse des Kneipenwirts Frank geschildert, der in von verschiedenen Szenaristen erdachten Episoden diversen Nachtschwärmer*innen begegnet. Das Milieu und auch die schemenhaften Zeichnungen erinnern an Frank Schmolkes Nachts im Paradies, wenngleich dessen harter Strich eine ganz andere Stimmung erzeugt als die farblosen mit Tuschestrichen konturierten (digital erstellten) Wasserfarbenzeichnungen von Lehmann. Die Kneipenhalbwelt, in die wir eintauchen, ist nicht halb so verwegen wie diejenige in Heinz Strunks Der goldene Handschuh, sondern eher harmlos-schrullig.

Diese Sonne glänzt nicht, leuchtet nicht und strahlt nicht.

Der Name der Kneipe ist höchst ironisch, denn der nächtliche Treff hat nichts Strahlendes oder Erhabenes, und es versammeln sich dort nicht diejenigen, die nach Höherem streben, sondern die üblichen Verdächtigen auf dem Weg nach unten. Ein ehemaliger Boxer. Ein Schriftsteller ohne Buch. Ein Großvater ohne Ambitionen, sein Enkelkind zu besuchen. Ein Schlachter ohne Anstellung. Ein Informant ohne Informationen. Ein Tresen, an dem keine Sensationen zu erwarten sind, dafür aber viele kleine Dramen, die das Leben so ganz nebenbei schreibt. Über Eifersucht, Versagensängste und manchmal auch über unerwartete Stärke.

In dieser Kneipe werden keine Erfolgsgeschichten erzählt, aber das Scheitern ist eben Teil des Lebens.

Es regnet oft, und selbst, wenn der Himmel trocken bleibt, hüllen die digitalen Wasserfarben alles in ein tristes Grau. Die Reinigungskraft Ute (in den „besten Jahren“) muss früh aufstehen, um in der Kneipe putzen zu gehen, und als sie das freudlose Ehebett verlässt, streift Ute einen Teil ihres Lebens ab, der nicht nur farblich grau-in-grau ist. Wir sehen die knallrote Farbe des Lippenstifts nicht, mit dem sie sich hermacht, um die Kotze aus dem Kneipenklo zu wischen, aber wir ahnen sie. Seit zwanzig Jahren arbeitet sie für den Kneipenbesitzer Frank, und ebenso lange pflegen sie schon das Ritual, gemeinsam einen Schnaps vor der Arbeit zu trinken.

Ute hat einen einfachen Job, aber hat dennoch Stolz.

Plötzlich stürmt Ilias mit großem Pathos in die Kneipe und vom Tresen rasch in Richtung Toiletten, um das zu tun, von dem Ute hoffte, heute verschont zu bleiben. Sie kommen ins Gespräch, und wir erfahren, dass Ilias ein Konzertpianist ist, der bei einem großen Auftritt versagt und, so glaubt er, seine Freundin maßlos enttäuscht hat. Was für einen herrlichen Kontrast Lehmann hier aufbaut – zwischen der selbstbewussten, den Feudel schwingenden Ute („Füße hoch!“) und dem herausgeputzten, aber am Boden zerstörten Ilias. Sie richtet ihn wieder auf und drückt ihm den Schrubber in die Hand: „Machst du nachher das Licht aus, wenn du fertig mit Wischen bist?“ Oben und unten verlieren in dieser Bar ihre Gültigkeit.

Ilias scheitert an seinem Klavier, zum Schrecken des Publikums und seiner Freundin.

Eine schöne Szene ergibt sich auch, als ein Mann, der nach 27 Jahren seinen Job verliert, vom Schlachthaus erzählt – „Jeden verdammten Tag. Tote Viecher. Hunderte von denen. Die fahren schön in Reih und Glied an dir vorbei“ – und zugleich sehen wir die Männer in Reih und Glied am Tresen herumhängen, nicht ganz wie tote Viecher, aber auch nur halblebendig. Was für eine Ironie.

Die Figuren schrammen manches Mal an Klischees vorbei, aber Lehmanns einfühlsame Schilderung lässt schließlich doch komplexe Figuren vor uns erstehen, deren Ängste wir spüren, deren Hoffnungen wir nachvollziehen und deren Not wir mitleiden können. Und doch zeigt sich am Schluss des Comics ein Licht am Ende des Tunnels.

Die einzelnen Kapitel wurden allesamt von Matthias Lehmann gezeichnet, wohingegen die Texte von verschiedenen Autor*innen, d.h. von Sascha Herrmann, der Filmemacherin Nina Hoffmann, der Comiczeichnerin Katja Klengel (Girlsplaining) und auch von Lehmann selbst, stammen.

Matthias Lehmanns Langcomicdebüt Parallel (2021) war außerordentlich erfolgreich. Das Projekt wurde 2018 unter die Finalisten des Berthold Leibinger Preises gewählt und konnte bereits einige Aufmerksamkeit verbuchen, wenngleich die Entscheidung der Jury am Ende auf Blåvand von Jan Dinter und Thomas Pletzinger fiel, auf dessen Fertigstellung und Publikation wir noch warten.

Bei Parallel handelt es sich um die Geschichte eines homosexuellen Mannes, der in den 1950er Jahren ein Doppelleben zu führen gezwungen ist, um den Anschein einer normgerechten Familie zu wahren und zugleich seine Wünsche zu erfüllen. Lehmann führt die Leser*innen in Parallel in dieser Geschichte in die ungeordneten Verhältnisse eines notorischen Lügners, in Zur Sonne stehen nur die Schnapsflaschen in Reih und Glied, sitzen die Menschen am Tresen wie Schlachtschweine am Haken, aber inmitten dieser Ordnung herrscht Chaos, ganz egal, wie viel man wischt und putzt.

Dem Künstler*innenkollektiv ist eine unaufdringliche Episodengeschichte gelungen, die von Anfang bis Ende begeistert. Von dem Independent-Film Smoke (USA 1995, Regie: Wayne Wang), der in einem Brooklyner Tabakladen spielt, sei dieser Comic inspiriert, so Lehmann im Deutschlandfunk-Interview. Ein Kammerspiel in einer Welt, die auf Anhieb ganz fremd erscheint, und deren Probleme auf den zweiten Blick die gleichen sind wie allerorts.

Mikrokosmos Eckkneipe

9von10Zur Sonne
Reprodukt, 2023
Text und Zeichnungen: Matthias Lehmann, Katja Klengel, Nina Hoffmann, Sascha Herrmann
112 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-366-8
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