Paris, 1986, Schmuddelwetter: während die Detektive Harry und Platte der Öffentlichkeit ihr Buch über einen Kunsträuber vorstellen, wird ihre langjährige Freundin Kiki, die Gräfin von d`Yeu, entführt.
Jetzt hat der Trend zur ambitionierten Neuinterpretation also auch Harry und Platte (alias Gin und Fizz alias Tif et Tondu) erwischt, das schwarze Schaf unter den Klassikern aus der Zeitschrift Spirou.
In ihren besten Alben war die über vier Jahrzehnte lang von Will mit Hilfe wechselnder Szenaristen gestaltete Serie die Entsprechung zu James-Bond-Filmen mit Sean Connery (auch wenn sie, wie einige Comics, ursprünglich schon ein paar Jahre vorher kam), es waren stylishe, abstruse Thriller, randvoll mit ganzen Kerlen, verführerischen Doppelagentinnen, geheimnisvollen Superverbrechern, markigen Sprüchen und bizarren Erfindungen zur Weltunterjochung. Die Schauplätze waren gerne trügerische Paradiese, Ferienstrände und Abenteuerdschungel, Schlösser, Casinos und die Tummelplätze des Jet Set. Hinter dem schönen Schein lauerten selbstverständlich immer schäbige Abgründe. Ständig mussten die brummigen Machohelden (so etwas wie intellektuelle Proleten, im richtigen Moment gebildet und eloquent, im richtigen Moment pragmatisch und wortkarg) irgendwelche Bomben entschärfen und sich vor Frauen in Acht nehmen, die nur aus Augen, Lippen, Brust und Beinen bestanden. Die Haltung von Helden und Serie stand dabei in der Tradition gesellschaftskritischer französischer Krimis.
Für das Wohlwollen der deutschen Comickritik war das wohl schlicht ein bisschen zu nahe am Trash, für einen dauerhaften Erfolg in Deutschland war es vermutlich nicht humoristisch genug, für das Gros der deutschen Genreleser vielleicht umgekehrt zu drollig, zu hübsch, eben zu sehr Spirou und belgische Schule.
Nun gehörte Zeichner Will (nicht der erste oder der einzige Schöpfer der Serie, aber doch der entscheidende) unleugbar zur legendären Clique von Franquin, Morris und Jijé, war die Serie unverkennbar alleine vom Umfang her (um die 50 Bände) kaum zu übersehen und waren diese ganzen Bände auch noch extrem lesbar. Also versuchten im Lauf der Zeit (je nach Zählweise) mindestens drei Verlage in mindestens sechs verschiedenen Reihen die eleganten Raubeine in Deutschland zu verankern. Der aktuellen, noch nicht abgeschlossenen Gesamtausgabe bei Salleck (nach einer Vorlage aus Frankreich) könnte es endlich gelingen, denn in der heutigen Albenlandschaft wirkt Wills wüstes Werk nicht mehr wie ein Fremdkörper und gleichzeitig wunderbar nostalgisch. Nach einer langen Pause wird die Originalreihe aktuell um Prequels und Spezialprojekte erweitert, zu denen auch der vorliegende Band von dem Brüderpaar Blutch und Robber gehört.
Es ist ein Prachtband, der nach Rauch riecht. Wenn Figuren nicht lustvoll eine Fluppe knarzen oder einen Aschenbecher zur Seite schieben, sehen sie zumindest so aus. Es ist eine Welt, die aus zerknautschten Mänteln, verregneten Straßen voller flackernder Lichter, aus schäbigen Bars und schattigen Herrenhäusern besteht. Es ist die opulente Comicversion eines kleinen, französischen film noir aus den 1980ern und macht also erst einmal einen Riesenspaß. Dicke, dynamische Kohlestriche, ein Gewitter aus Schatten und Speedlines, vermitteln eine nervöse Energie. Vor einer wüsten Farbmischung aus verschiedensten Blau-, Grau- und Grüntönen und einem allgegenwärtigen Pastellrosa fliegen die Fäuste und fliegen ganze Häuser in die Luft. Jede Glasscheibe ist zersplittert, jedes Buch zerfleddert, und auch in einer Hightech-Küche liegt ein zerknautschtes Handtuch herum. In dieser schicken Alptraumwelt regieren die menschlichen Schwächen, die Handlung wird von Eifersucht und Besessenheit und dem organisierten Verbrechen vorangetrieben. Es spricht für das geschlossene Konzept des Comics, dass sich auch ein Science-Fiction-Roboter und ein unsichtbar machender Mantel bruchlos in das Flair von Kognacschwenkern, Reifenpannen und Rotlicht einpassen.
Das erinnert an Will und bürstet ihn gleichzeitig gegen den Strich, denn beim Altmeister sahen umgekehrt auch noch die fiesesten Spelunken frisch und modern aus. Gerade in den 1980ern setzte er von der Optik her eher auf Zeitlosigkeit und Nostalgie, während andere Zeichner in Spirou tatsächlich die Farbpalette und den lässigen, unruhigen Stil einführten, den Blutch hier auf die Spitze treibt. Wo ist Kiki? ist also der Traum eines Fans, wie Harry und Platte in den 1980ern ausgesehen haben könnten, wenn sie damals zeitgenössischer gestaltet worden wären. Ob das im Vergleich zur Originalserie ein Bruch, eine notwendige Ergänzung oder eine zwangsläufige Weiterführung ist, muss wohl jeder Fan für sich entscheiden.
Graphisch ist das einfach virtuos. Mit scheinbarer Nachlässigkeit wirft Blutch eine vor atmosphärischen Details überquellende Thrillerwelt aufs Papier, die, passend zum entsprechenden Moment, ständig alle Nuancen zwischen gedämpftem Realismus und greller Karikatur austestet. Und verwirrenderweise zeigt er sich bei allem bemerkbaren (und eingelösten) Kunstanspruch als ein echter Meister der Action.
Sein Bruder Robber entpuppt sich kongenial als ein begnadeter Schöpfer von Szenen mit anschwellender Spannung und als ein Autor, der scheinbar mühelos glaubwürdig die aberwitzigsten Storyelemente miteinander verbindet. Dazu hat er ein gutes Gespür für die kleinen komischen Momente und Kabbeleien, die einer solchen Geschichte die benötigte menschliche Note geben.
Als großes Manko erweist sich aber leider die Geschichte, sofern sie mehr sein soll als eine Abfolge guter Szenen. Beide Handlungsstränge münden in enttäuschende und wenig überraschende Auflösungen. Bei starker Konkurrenz ist ausgerechnet dieser anspruchsvolle Spezialband vermutlich das bisher sinnfreieste Abenteuer von Harry und Platte. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass der nur angedeutete auslösende Handlungsstrang um gestohlene Bilder von Robber und Blutch in einem eigenen illustrierten Roman beschrieben wird (der nicht auf Deutsch erhältlich ist). Vielleicht gehört es zum ausgeprägten Stilbewusstsein der Brüder, eben auch eine Geschichte zu entwerfen, die an die nicht gerade für ihre überzeugenden Fabeln bekannten Traditionen von film noir und giallo anknüpft. Vielleicht liegt es in der Natur eines Fancomics, dass er sich gar keine echte neue Erzählung anmaßen will. Vielleicht aber eignen sich Harry und Platte, die als einzelne Figuren hier so schwach charakterisiert bleiben wie eh und je, und ihre Welt auch einfach nicht besonders gut für plausible Thriller und sind besser in dem, was sie bekannt gemacht hat: in schönen, stylishen, ein wenig gruseligen Comicträumen über ganze Kerle und eine Welt voller Abenteuer. Trotzdem: Hut ab.
Harry und Platte als kunstvoller, erwachsener Thriller, ohne Superverbrecher oder eine wirklich schlüssige Geschichte, dafür mit jeder Menge Action und Atmosphäre
Salleck Publications, 2020
Text: Robber
Zeichnungen: Blutch
Übersetzung: Eckart Schott
80 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 19,- Euro
ISBN: 978-3-89908-721-5
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