Man sollte sich vom Cover mit der gehörnten Kreatur nicht täuschen lassen: Der abgeschlossene Doppelband Weißer Schatten von den französischen Kreativen Antoine Ozanam (Burn Out) und Antoine Carrion lässt sich nicht dem klassischen Fantasygenre zuordnen, welches sich aus Drachen, Orks oder sonstigem übersinnlichen Firlefanz speist. Der Comic ist vielmehr vergleichbar mit einem Ränkespiel a la Game of Thrones. Zuweilen erinnert er sogar frappierend an George R. R. Martins Schöpfung.
Die Handlung von Weißer Schatten ist im fiktiven Reich Etelkoz angesiedelt, über das König Benedek herrscht. Dieser liegt seit einer Vergiftung im Sterben, seine potenziellen Nachfolger bringen sich bereits in Stellung. Plötzlich wird Benedeks Sohn, Prinz Mozes, entführt, offenbar von einer wilden Bestie, über die gemeinhin als „der Namenlose“ gesprochen wird. Eilig werden aus allen Winkeln des Reiches die Oberhäupter der mit dem König verwandten Familien herbeigerufen, um zur Jagd auf den mysteriösen Entführer zu blasen. Aber schnell wird klar, dass jeder der Beteiligten sein eigenes Süppchen kocht und die Suche nach dem Prinzen für die meisten gar nicht von hoher Priorität ist.
Intrigen, Verrat, Taktik; Szenarist Ozanam entwirft in seinem Zweiteiler ein aufwändiges Bild vom Spiel um die Macht. Natürlich geht es dabei reichlich blutig zu, so wie man es von einem schonungslosen Mittelalter-Ambiente erwarten darf. Zumal in diesem Comic spürbar keiner ein Interesse daran hat, dem jeweils anderen kampflos den Thron zu überlassen. Ozanam ist vordergründig eine gut aufgebaute, kluge Erzählung geglückt, vielschichtig und einnehmend. Umso bedauerlicher ist es, dass sich Weißer Schatten sowohl von der Grundidee als auch von den Designs stark an Game of Thrones anlehnt. Und das wäre eigentlich gar nicht vonnöten gewesen, hätte die Story doch genug Potential und Eigenständigkeit beinhaltet, um sich von solch einem präsenten Vorbild stärker zu lösen. Dazu kommt, dass dem Comic genau diese lobenswerte Komplexität und inhaltliche Tiefe zum Verhängnis wird, nämlich dann, wenn nach zwei Alben bereits ein Ende gefunden werden muss. Im Prinzip ist mit dem freien Ausspielen des breit angelegten Plots bereits nach der ersten Hälfte zum Großteil Schluss, weil man ab diesem Zeitpunkt auf einen Showdown zusteuert, der vergleichsweise von enttäuschender Natur ist. Wo im ersten Album Zurückhaltung und Spannung vorherrscht, findet im zweiten Teil nur noch die Abwicklung der Story statt – leider recht spannungsfrei.
Wenn Antoine Ozanam schon so ein bemerkenswert großes Figurenensemble in den Ring wirft und die Figuren auch noch untereinander stark verknüpft sind, dann müsste er sich eigentlich selbst mehr Zeit (sprich: mehrere Alben) geben, um dieses Beziehungsgeflecht, dem sich der Leser ohne Vorwarnung ausgesetzt sieht, nach und nach auseinanderzunehmen. Mit den nur knapp 100 Seiten insgesamt bleibt mein Durst nach mehr Aufklärung am Ende jedenfalls unbefriedigt.
Besonders positiv fielen mir beim Lesen allerdings die Zeichnungen von Antoine Carrion auf. Mit sehr feinen Tuschelinien und einer erdigen Kolorierung prägt sein Stil die Szenerie. Die Schnee-, Sumpf- oder Waldlandschaften sind wunderbar stimmungsvoll illustriert, ohne sonderlich pompös sein zu wollen. Zuweilen erinnert Carrions Arbeit gar an die von Bastien Vivès in seiner Reihe Für das Imperium (Reprodukt). Schade, dass die Linienführung im zweiten Teil gröber, irgendwie unsauberer wird und dadurch nicht mehr jede Seite so wohlwollend hervorzuheben ist.
Gute Ansätze, stellenweise klug umgesetzt; mehr Spielräume hätten der Story aber gut getan
Splitter-Verlag, 2015
Text: Antoine Ozanam
Zeichnungen: Antoine Carrion
Übersetzung: Tanja Krämling
96 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 19,80 Euro
ISBN:978-3-95839-010-2
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