Mitte 40 kommen die Einschläge näher, Erste Freunde sterben, Verfallserscheinungen am eigenen Leben sind ebenfalls nicht mehr zu übersehen. In Vernon Subutex‘ Leben passiert das schleichend: Erst verliert er seinen Plattenladen, der einst eine Szeneinstitution war, inzwischen aber irrelevant geworden ist, seit modernere, gesichtslose Player wie Napster, Youtube und Streaming auf den Plan traten. Danach verliert er nach und nach alles.
Vernons Identität beginnt ernsthaft zu zerbröseln, als er beginnt, seine Musiksammlung zu verscherbeln, um über die Runden zu kommen. „Wenn man anfängt zu verkaufen, hält man sich erst mal zurück, aber wenn es läuft, macht es einen Heidenspaß, zuzusehen, wie alles verschwindet“, so eine der zahlreichen Formulierungen für die Ewigkeit, mit der Virginie Despentes die Stimmung für ihren großartigen Roman setzt. Aber dann reißt auch die letzte Sicherung, als Alexandre Bleach stirbt, ein französischer Superstar, und der einzige von Vernons Kumpels, der ihn regelmäßig mit Zuwendungen unterstützen konnte. Immerhin konnte Vernon ein letztes rares Interview mit Alex aufnehmen, aber jetzt verliert Vernon seine Wohnung und landet auf der Straße. Die Kassetten mit den Interviews deponiert er sicher und denkt erst mal nicht weiter darüber nach, während anderswo bereits ein Hype um das letzte Interview von Alex Bleach entsteht und ein Filmproduzent seine härteste Detektivin „Hyäne“ auf die Jagd nach Vernon Subutex schickt, eine Art Internet-Troll, die mit Fake-Profilen Shitstorms erzeugt und Karrieren killt. Währenddessen verliert sich Vernon in der Stadt und lässt sich treiben.
Es mag schäbig wirken, aber als ich auf die Comicversion von Luz aufmerksam wurde, griff ich gezielt am Comic vorbei zur Textversion. Mich interessierte der Stoff mit einem Mal so sehr, dass ich die Vermittlung durch einen zwischengeschalteten Künstler von Herzen ablehnen musste. Ich will den direkten Kontakt zur Autorin: aus ihrem Kopf durch ihre Hand direkt zu meinem Auge, darauf hatte ich Lust, ohne dass ein Zeichner filtert, interpretiert, verwandelt und anreichert. Den Comic würde ich dann aber später schon aus Loyalität lesen. Erstens mag ich Luz’ Stil, zweitens hat seine Adaption mich auf Vernon Subutex aufmerksam gemacht, und den Comic zu ignorieren, wäre unlauter.
Die Figur des Vernon Subutex mag auf den ersten Blick grundsympathisch wirken, vor allem da seine Toleranz gegenüber Menschen jeglicher Couleur und Orientierung anschlussfähig ist. Aber Vernon meidet die Verantwortung und beklaut schon mal seine alte Freundin Sylvie, bei der er einige Zeit übernachten darf. Als Rechtfertigung legt er sich zurecht, dass sie zu einnehmend und übergriffig sei. Seine Kumpels, die Kinder bekommen haben, sind ihm ebenso suspekt: „Entweder du hast dich damals geirrt, als du mit 20 Slayer gehört hast. Oder du irrst dich heute mit deinem Leben.“ Hinter so viel Unbedarftheit verbirgt sich eine ganze Menge Potenzial. Der ist einfach noch nicht fertig in seiner Entwicklung.
Luz, der Zeichner der Comicadaption, weiß, was es bedeutet, kompromisslos zu sein. Vielleicht hat der Charlie-Hebdo-Künstler für Kompromisslosigkeit sogar den höchsten Preis gezahlt, als er erleben musste, wie seine Freunde und Mitarbeiter beim Attentat auf die Charlie-Hebdo-Redaktion 2015 sterben mussten. Danach gab sich Luz eine Weile noch kämpferischer – vielleicht auch trotziger – und hat die bekannte Mohammed-Karikatur „Je suis Charlie!“ veröffentlicht. Aber der Preis war hoch. Luz, der früher nicht ohne Musik konnte, hatte nach dem Massaker jahrelang seine Liebe zur Musik verloren – erst durch die Arbeit an Vernon Subutex hat er wieder Freude am Hören von Musik gewonnen. Das liegt nur teils am Sujet, einem Schallplattenhändler, der sich in der Szene bewegt wie der Fisch im Wasser. Es dürfte auch an Virginie Despentes liegen, die ein vielschichtiges Figurenpersonal entworfen hat, welches sich jeder Schematisierung entzieht.
Man schluckt durchaus immer wieder ob der unverblümten Figurenrede und fragt sich, ob die Welt erst kürzlich so sensibel auf politische Inkorrektheit reagiert, oder ob das auch 2015 schon unerhört war. Virginie Despentes wagt viel und entwickelt ein Figurenensemble, das am ehesten noch in den besten Arbeiten von Pedro Almodóvar sein Äquivalent findet. Nichts ist eindeutig, nicht die politischen Haltungen, nicht die sexuellen Identitäten. Wie auch, wo doch die Akteure in Vernon Subutex alle zusammen in den Nischen zu Hause sind, konsequent abseits des bürgerlichen „normalen“ Lebens. Aber diese Halbwelt ist das schlagende Herz von Kultur und Kunst. Chaos und Schmerz sind oft genug die Impulsgeber für das Lebenselixier, das wir so gierig und gedankenlos in uns aufnehmen.
Die Autorin behauptet ja gerne von sich, dass ihre kreative Haupttriebfeder die Wut sei. Dennoch gilt es zu konstatieren, dass ihr Vernon Subutex, obwohl roh und mit jederzeit authentischer Street Credibility, eine viel warmherzigere Erzählstimme hat als ihr erbarmungslos-krasses Romandebut Baise moi, das von ihr ebenso kompromisslos selbst verfilmt wurde. Demgegenüber steuert sie in Vernon Subutex ihre unorthodoxen Figuren gerne auch mal in Abenteuer, wie man sie auch im gehobenen Mainstream findet und schätzt, beispielsweise die aufkommende respektvolle Freundschaft zwischen der abgebrühten Hyäne und dem islamistischen Mädchen Aicha, die mit dem Schock umgehen muss, dass ihre Mutter Pornodarstellerin war. Deren Annäherung ist überraschend sympathisch und plausibel erzählt, was die Geschichte bereichert und ihr nichts von ihrer rohen Kraft nimmt Nur krass muss Virginie Despentes schon lange nicht mehr sein, die Härte von der Straße beschreibt sie dennoch ungeschönt.
Man merkt dem Comic an, dass es sich um eine Adaption handelt, dass Luz Bilder zu einer Vorlage finden musste und diese nicht synchron mit dem Text entstanden sind. Aber Luz meistert die Aufgabe auf hohem Niveau. Nie sind die visuellen Assoziationen an den Haaren herbeigezogen, fast immer bereichern sie den Text, außerdem verleiht die Illustration dem Text eine dichte Kohärenz, während in der Vorlage doch vieles eher episodenhaft wirkt. In der Komposition von Bild und Text gelingen attraktive Seitenkomposition, die mit dem großartigen Lettering von Olav Korth ihre visuelle Vollendung finden.
Am stärksten ist Luz dennoch, wenn er sich vom Text löst und den Bildern freien Lauf lässt. Die zentrale Liebesszene ist ohne Worte, ausgebreitet auf über acht Seiten, umso hinreißender geraten. Nicht weniger überwältigend aber ist eine trippy Sequenz, in deren Höhepunkt Vernon auf einer rotierenden Schallplatte von einem gigantischen Tonabnehmer davonrennt, ganz wie seinerzeit der Big Lebowski vor einer gigantischen Bowlingkugel.
Mit Vernon Subutex ist Rock’n’Roll endlich wieder cool.
Reprodukt, 2022
Text: Virginie Despentes
Zeichnungen: Luz
Übersetzung: Claudia Steinitz und Lilian Pithan
306 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 39 Euro
ISBN: 978-3956403248
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