Ein Roman über die deutsche Comicszene, in der kaum ein realer (deutscher) Comic genannt wird. Ob das aufgeht?
In Marc Degens Verführung der Unschuldigen dreht sich alles um eine Clique von Kunststudenten, die die (fiktive) Akademie für Visuelle Kunst und Grafisches Erzählen in Essen besuchen. Keine von den Figuren im Buch hat je gelebt, das stimmt; echt sind die Figuren trotzdem, Marc Degens schreibt nur diskret an allen wahren Personen und Begebenheiten vorbei – und um die Verschiebung richtig zu vollenden, macht er sein literarisches Ich zu einer Frau mit Namen Marthe (was immerhin den Sexszenen eine interessante neue Perspektive verleiht). In einer Künstler-WG produzieren sie emsig Minicomics als wär’s das Einzige, was zählt. Okay, Sex ist auch wichtig. Und ein bisschen Comicforschung. Aber keine deutsche Comic-Geschichte. Eigentlich schade.
E und U sind eins an diesem Ort; Tijuana-Bibeln (von der Mafia in den 1930er Jahren in Auftrag gegebene Pornocomics) haben schließlich auch ihre Aufwertung erfahren, weil sie comic-historisch als Vorläufer der Undergroundcomix gelten, und so ist auch der Weg vom handgetackerten Minicomic zu Vorlesungen mit Titeln wie „Verwandlungen der visuellen Sprache: Seitenlayouts von Graphic Novels im Wandel der Zeit“ ein denkbar kurzer. Alles hängt mit allem zusammen: Buchstabenkunst mit Schreibmaschinenlettern ist auch grafisches Erzählen, ist spannend und neu. Erinnert sei an Warren Cragheads Buchstabenkaskaden, erinnert sei an Shane Simmons‘ Longshot Comics, in dem Figuren nur als Punkte dargestellt sind. Den klassisch ausgebildeten Comiczeichner gruselt’s, der Akademiker freut sich über die Ausweitung der Bandbreite und das Spiel mit der Comictheorie.

Neue Kunst, neue Impulse. Panel aus Warren Cragheads Kleine Satelliten © MaroVerlag.
Um bei Degens‘ Buch zu bleiben: Marthes Boyfriend Oleg verfasst konkrete Lyrik mit Maschinenlettern und fühlt sich wie ein Imposter unter den Grafiker*innen. Zu Unrecht: man giert nach darstellerischen Ideen und Neuansätzen, der Comickunstbegriff ist längst radikal erweitert. (Neue Musik fand auch jeder zum Davonlaufen, bis Ennio Morricone in seinen Filmmusiken gezeigt hat, was man damit eben auch machen kann.) Trotzdem ist man dem klassischen Comic verbunden und die Campus-Bibliothek ist dabei so etwas wie der Missing Link zwischen der realen und der ausgedachten Comicwelt, dort gibt’s auch Sachen von Ulli Lust oder Birgit Weyhe, Namen, die in Degens‘ Story keinen Eingang fanden, nur in die beigefügte Liste mit den 50 meistgeliehenen Comics. Zudem diskutieren Marthe, Oleg, Sina, Suuk Yin (heißt so nicht Chester Browns Freundin?) und all die anderen Künstler*innen leidenschaftlich über Titel wie Persepolis, Superman oder Wonder Woman und wissen Bescheid über Frederic Wertham, den amerikanischen Psychiater und Autor des berüchtigten Klassikers Seduction of the Innocent, der in den Wolkenkratzern der Superheldencomics Phallussymbole sah und in den Muskelfasern der Superhelden versteckte nackte Frauen. (Nebenbei bemerkt: Wertham hatte recht. Oder haben uns die umtriebigen Amis etwa nicht Batman und Robin untergejubelt, die so schwul wirken, dass es kein Zufall sein kann. Und auch die Bondage-Ikonographie von William Moulton Marstons Wonder Woman ist doch Fakt.)

Die Buchstabenkunst der Romanfigur Oleg. Nur möglich mit echt mechanischer Schreibmaschine. Das Medium ist die Botschaft. © Ventil Verlag
Verführung der Unschuldigen ist ein Bombentitel für ein Buch über Comics, wenn auch nicht ganz im Sinne von Wertham. Es ist fast rührend, wie arglos Marc Degens‘ Künstlerstudenten sexeln, kiffen, spielen und sich ratlos und frustriert in einer Welt wiederfinden, in der Trump und AfD die Welt bald so absurd aussehen lassen, dass unschuldige Porno-Minicomics wie der letzte Hafen für geistige Gesundheit und Anstand wirken. Richtige smart aber wird der Roman, als etwa ab der Mitte das dramaturgische Herzstück der Story beginnt, ein Plagiatsfall: Eine ganz besonders erfolgreiche neue Graphic Novel, die in ganz Deutschland durch die Decke geht (neues deutsches Graphic-Novel-Wunder sozusagen), noch dazu von einem gerade mal 17-jährigen Wunderkind verfasst (auch „Mozart der Comics“ genannt), ist frech zusammengeklaut und abgezeichnet aus Marthes selbstverlegten Indie-Comics. Beziehungen zum Kulturbetrieb hat der kleine Mozart außerdem. Mit Rückenwind ins Rampenlicht gehievt – wer hasst solche Leute eigentlich nicht?
Marc Degens kann hier ausgiebig auf seine eigenen Erfahrungen zurückgreifen, er war Herausgeber des Buchs, aus dem Helene Hegemann sich 2010 für ihr Romandebut Axolotl Roadkill bedient hat; Hegemann hat ihr Vorgehen damals betont lässig als zeitgemäße Zitate- und Remixkultur bezeichnet. Immerhin: damals wurde noch ehrlich geklaut. Degens legt dafür wiederum seinem Plagiator Hegemanns Wort des „Urheberrechtsexzess“ in den Mund, als wär’s schon immer seins. Das bietet ihm auch die Chance, den Kultur-Journalismusbetrieb, den Comic-Journalismus (auf welchen Comicreporter spielt wohl der Titel „TILL – DIE ENTSCHLOSSENE KOMIKZEITSCHRIFT an?) sowie das hochtrabende Marketingsprech der Großverlage gleich mit aufs Korn zu nehmen. Ein bisschen Mitgefühl für seinen 17-jährigen Plagiator, von einem deutschen Großverlag allzu leichtfertig zum Superstar hochgejazzt, lässt sich – trotz durchaus vorhandener Allüren, welcher 17-jährige hätte sie nicht – zwischen den Zeilen aber auch herauslesen. Gut möglich, dass auch er zu den Unschuldigen zählt, weil er sich der Verführung nicht erwehren hat können. Andere verlieren ihre Unschuld, weil sie plötzlich mit harten juristischen Bandagen um ihre Arbeit kämpfen müssen, die mit jugendlichem Frohsinn ihren Anfang genommen hat.
Marc Degens‘ Buch lässt sich auf verschiedenen Ebenen genießen. Für Laien ist es eine turbulente Milieugeschichte, die jedem gefallen dürfte, der gerne Sachen liest wie Dorfpunks, Trainspotting, Herr Lehmann oder Fleckenteufel, auch was den schnoddrigen Tonfall, Sprachwitz und die liebevolle Figurenzeichnung angeht. Gegen Ende ist der Roman leider etwas lang geraten und vielleicht zu akribisch im Dokumentieren endloser Korrespondenzen, andererseits kann ich der Akribie des Romans auch etwas abgewinnen, immerhin erhalten gerade die nutzlosen Dinge, die so nebenher passieren, viel Raum. Vom Plot her wäre sicher auch die zehnseitige Strip-Poker Szene sicher nicht nötig gewesen – aber Plot hat zurückzutreten, wo Innenleben Vorrang hat.
Indes finden sich für Leser*innen, die sich im Milieu auskennen, mächtig viele Querverweise und Anspielungen, so dass schnell klar wird, dass Degens weiß, wo der Hammer hängt. „Wir haben es hier nicht mit einem Comic von Kinga Gazi oder Robert Sikoryak zu tun“, heißt es an einer Stelle, bezugnehmend auf Sikoryak, einen amerikanischen Künstler, der sich bewusst fremde Stile aneignet. Unter anderem stammt von Sikoryak eine wunderbare Adaption zu Hermann Melvilles Bartleby, gestaltet mit den Figuren von Scott Adams‘ Dilbert. Man sieht schon, dass Marc Degens sich im Bermudadreieck zwischen Plagiat, Hommage und Zitat auskennt. [Vgl. Abschweifung 1 (ganz nach unten scrollen).]

Aus: CBLDF Liberty Annual 2014. © Robert Sikoryak.
Verführung gelungen. Marc Degens zaubert mir beim Lesen ein breites Grinsen ins Gesicht.
Verführung der UnschuldigenVentil-Verlag, 2025
Text: Marc Degens
548 Seiten, Roman ohne Bilder
Preis: 32 Euro
ISBN: 978-3955752477
Leseprobe
Abschweifung 1:

(c) Egmont-Verlag, Walt Disney.
Vergleicht man Robert Sikoryaks Dilbert-Text mit den sehr freien Übersetzungen von Dr. Erika Fuchs, so ist eine gewisse geistige Verwandtschaft nicht von der Hand zu weisen. Im gewählten Bildbeispiel macht Erika Fuch den Brandstifter kurzerhand zum Romantikfan und zieht mal eben sehr eigenständig eine neue Bedeutungsebene ein. Nichts anderes hat Sikoryak gemacht, als er Dilbert mit Bartleby zusammenbrachte.
Abschweifung 2:
Wer möchte, kann sich ja begleitend zur Lektüre ja noch durch Degens‘ Online-Auftritte scrollen – es bietet hervorragende Begleitmusik zum Leseerlebnis. Und mehrere Spotify-Playlists gibt es für Verführung der Unschuldigen selbstredend auch.



