Es gibt ja einige Comics über Obdachlose: Vernon Subutex von Luz, Blast von Manu Larcenet, Penner von Christopher Burgholz, und ganz sicher gehört auch Daredevil: Born Again von Frank Miller und David Mazzuchzelli dazu. Nie aber war uns ein Obdachloser wohl unsympathischer als die Figur des Rufus Himmelstoß in Uli Oesterles Vatermilch. Bevor er aus der Gesellschaft fällt, betrügt er Frau und Kind, nachdem er eine Mutter und ihre zwei Kinder im Suff totgefahren hat, vergeht er in Selbstmitleid, unfähig, sich seiner Schuld zu stellen. Und für so eine Null sollen wir uns ernsthaft interessieren?
Ähnliche Bedenken muss Uli Oesterle gehabt haben, denn gleich zu Anfang des zweiten Teils seiner auf vier Teile angelegten Vatermilch-Erzählung stellt er klar: Sind sie auch noch so tief gefallen, die Menschen halten sich doch „krampfhaft an ihrer erbärmlichen, häufig durch und durch sinnlosen, Existenz fest“. Aber welche Perspektive, welche Lebensfreude kann denn noch bleiben angesichts der monströsen Schuld, die Himmelstoß hier auf sich geladen hat?
Wir begegnen Rufus Himmelstoß, den wir aus dem ersten Band (hier zur Besprechung auf Comicgate) kennen, zu Beginn in einer elenden Verfassung, wo er sich je nach Tagesform volllaufen lässt, sein altes Leben zurückhaben will, am liebsten jedoch tot wäre. In dieser Verfassung ist es ein weiterer Obdachloser, Börni, der ihm trotz anfänglicher Zurückweisung nicht mehr von der Seite weicht. Börni macht Rufus für das Leben auf der Straße fit und gibt ihm moralische Unterstützung. Er bohrt nach, warum Himmelstoß denn auf der Straße lebe, und akzeptiert die oberflächlichen Lügen nicht, mit denen Rufus jedem Gespräch über seine Vergangenheit gerne ausweicht.
Börni fordert, dass Rufus sich erforscht und seiner Verantwortung stellt: „Bullshit“, schreit er Rufus an, „ich kenne die Menschen, [… v]or allem die, die auf der Straße wohnen. So einen wie dich wirft eine solche Lappalie nicht derart aus der Bahn.“
Lange Zeit ist Börni der Engel, der Rufus im Fegefeuer der Obdachlosigkeit zur Seite steht, bis dieser von seinen Sünden geläutert ist. Als aber Rufus es dann endlich wagt, von der größten Katastrophe seines Lebens, dem tödlichen Unfall, zu erzählen, ist Börnis Reaktion eine denkbar verstörende Antiklimax. „Dann denk halt einfach nicht mehr dran“, sagt er lapidar, nachdem Rufus sich in der Mitte des Bandes endlich öffnet. BITTE, WAS? Das soll die glaubwürdige Reaktion von Rufus‘ Engel in der Dunkelheit sein, nachdem der ihm salbungsvoll erklärt habe, es sei eine Sache, einen Teller runterzuwerfen, aber etwas ganz anderes, die Scherben liegenzulassen? Ist das jetzt schlampig erzählt, oder macht das Sinn?
Und trotzdem, obwohl ich konsterniert und perplex von dieser Null-Reaktion war: Was hätte denn passieren sollen? Hätte vielleicht der Himmel aufgehen und Engel mit Posaunen ertönen sollen? Oh nein. Uli Oesterle macht auch hier alles richtig in seiner breit angelegten Sozialstudie und verweigert uns die einfachen Lösungen. Es wartet eben noch immer ein schwerer Weg auf uns, und auch Börni konnte Rufus eben nur bis hierhin tragen. Ein Teil der Lösung aber wird uns in wiederkehrenden, von der Erzählkontinuität abgekoppelten, Sequenzen bereits angedeutet: Rufus Himmelstoß wird seine spätere Berufung als radikaler Gestalter von Holzskulpturen finden, der seinen ganzen Seelenschmerz in seine Kunst legt. Dass der Weg dahin durch die Hölle führt, ist bei uns Lesenden bereits deutlich angekommen. Aber eins ist klar: Am Ende wird dieser Rufus eben doch keine Null sein.
Durch die elliptische, auf mehreren Zeitebenen stattfindende Erzählweise ist die Erzählung trotz aller Schwere ein Lesevergnügen. Auch die grafische Gestaltung ist weiterhin kreativ und virtuos. Ich sehe Oesterles Zeichenkunst in der Tradition deutscher Buchillustrationen, die Art und Weise, wie er in Panels die Geschichte voranbringt, ist aber durch und durch modern.
Leben im Fegefeuer. Da hilft kein Ablass.
Carlsen Comics 2023
Text und Zeichnungen: Uli Oesterle
132 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 25 Euro
ISBN: 978-3551711595
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