Als der Wahl-Hamburger Lukas Jüliger 2013 sein Comic-Debüt Vakuum veröffentlichte, war das ein Paukenschlag in den Medien: Der junge Student der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) wurde quer durch Print- und Funkmedien gefeiert. Bei seinem jüngsten Comic, Unfollow, darf man vermuten, wird das ähnlich sein.
„Seine Erinnerungen begannen irgendwo im Kabrium.“ Der Prolog geht weit in die Vergangenheit zurück, in großen Schritten rasen wir durch die Erdfrühgeschichte fast wie in Jens Harders Alpha (2009) – und auch hier steht die Natur im Vordergrund, nur weniger lehrbuchhaft als bei Harder. Earthboi ist ein siebenjähriger Junge, der in einer Pflegefamilie aufwächst, eine „Kindheit in Langeweile und Überfluss“. Zumindest solange, bis er in einem Heim für verhaltensauffällige Kinder landet. Earthboi ist tatsächlich ungewöhnlich, so wie alle normalen Menschen verhaltensauffällig und ungewöhnlich sind. Bei ihm stehen das Gewöhnliche (ein Hund namens Rico) und das Ungewöhnliche aber in einem starken Spannungsverhältnis: So schnuppert er gern an toten Tieren (auch an Rico), weil er in dem Leichengeruch die Essenz der Natur wähnt. Etwas Besonderes umgibt diesen Jungen, das spüren auch die Kinder, mit denen er in dem Heim lebt und die uns die Geschichte erzählen.
Earthboi hat, nomen est omen, eine besondere Verbindung zur Natur bzw. er wird von dem Erzählerkollektiv als quasireligiöse Inkarnation der Natur selbst interpretiert: „Wir wussten, wer uns berührt hatte, wem wir begegnet waren: der Erde selbst, ihrem fleischgewordenen Schöpfer.“ Dabei darf einem etwas mulmig werden – denn die Art, wie die Kinder sich um ihn scharen, geht über normalkindliches Sozialverhalten hinaus: Wie eine Sekte erscheinen sie, aber weil wir alles aus ihrer Perspektive sehen, erhält das Ungewöhnliche den Anstrich des Gewöhnlichen.
Earthboi flieht aus dem Heim, zieht sich in die Natur zurück und entwickelt sich dort zu einem Internet-Umweltaktivisten, dessen Videos ihn zu einem berühmten Influencer machen, der den Umweltkollaps multimedial kommentiert, sich aber nicht ganz von der modernen Welt verabschiedet. So finanziert er sein Projekt, sofern er selbst es so bezeichnet hätte, durch Product Placement.
Earthboi gründet eine Aussteigerkolonie auf einem alten Golfplatzgelände. Seine Follower, ein Konglomerat aus Studenten, CEOs, Bankern und richtigen Menschen, führt ein Leben in aller Einfachheit, eine lupenreine Utopie, geteilt per Social Media. Ein „heiliger Ort“. Das Geschehen eine ‚Offenbarung‘.
Die Geschichte des Jungen lässt sich ganz unterschiedlich erzählen: Als mystische Geschichte einer rebellierenden Natur oder als Biografie eines Jungen, der Trends folgt und Trends setzt, als Held oder als Opfer. Eine eigene Stimme aber hat er nicht – die Geschichte wird ausschließlich in Bildern und Erzählerkommentaren erzählt, so dass wir alles durch die Brille von Eartbois Followern sehen – und die entpuppen sich schließlich als Uns-ist-jedes-Mittel-recht-Ideologen: „Vision“ und „Rausch“ sind halt meist fragwürdige Ratgeber.
Earthboi posiert vor der Natur wie Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818). Wo Friedrich seinen Wanderer nur Nebel sehen lässt, zeigt Jüliger seinen Helden vor einer klaren Landschaft, durch die sich ein Fluss oder Weg durch die dichte Vegetation schlängelt. Dieser verliert sich im Wald ebenso wie der Weg Earthbois. Seine Follower glauben, klar zu sehen („Dass sie die Dinge zum ersten Mal wirklich klar, ohne Filter zwischen sich und der Welt sahen“), aber dieser Irrtum ist nur Symptom ihrer Blindheit. Und auch Earthboi verrennt sich, und Jüliger zeigt dies, wenn er Text und Bild auseinanderklaffen lässt: „Er wollte die tiefen Spuren des Menschen in ihr mit eigenen Augen sehen.“ Was er tatsächlich sieht, ist nur das Gorilla Glass seines Smartphones.
Die Widersprüchlichkeiten eines smart vernetzten Umweltaktivisten zeigen ein Dilemma, ohne es lächerlich zu machen. Sich eine Meinung über soziale Medien, über Kapitalismus, über gesellschaftliche Verantwortung zu bilden, nimmt dieser Comic einem nicht ab. Im Gegenteil, Unfollow ist der Imperativ einer modernen Aufklärung für diejenigen, denen Kants Beschreibung der Aufklärung nichts zu sagen hat. Sapere aude.
Sapere aude
Reprodukt, 2020
Text und Zeichnungen: Lukas Jüliger
168 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 18,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-217-3
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