Rezensionen
Schreibe einen Kommentar

Über Leben

Maus Maki und Kater Adagio teilen sich mit weiteren Tieren ein Comicatelier im tiefsten Berlin. Nach Auseinandersetzungen um eine Mieterhöhung über 300 Prozent bricht Maki tot zusammen. Während Makis Geist durch traumatische Erinnerungen fliegt und Adagio auf einer Odyssee durch die obdachlose Stadt begleitet, verfestigt sich ein grauenvoller Verdacht: war es Mord?

Maki Shimizu, die vorher vor allem mit Illustrationen und kürzeren Comics in der gleichen Besetzung reüssiert hat, besitzt und kultiviert ein herausragendes graphisches Talent und die seltene Fähigkeit, glaubwürdige und originelle Figuren zu erfinden (und fremde auf den Punkt zu verfremden – Lolek und Bolek als Alkoholiker sind ebenso brillant wie Franziska Giffey als Barbapapa). Ihr mit elegantem Understatement scheinbar naiv gestricheltes Bleistiftberlin voller mürrischer Robben, anheimelnd krummer und schiefer Häuser und Autos, neben denen die von Lewis Trondheim Fotorealismus sind, ist eine stimmig gebaute Welt. Die ziemlich wilde Gestaltung lotet abgründig und überraschend die Grenzen aus, die zwischen grob gezeichneter, krasser caricature brute, Kindercomic, Kunsthochschule und Kunst verschwimmen.

Dem seit 15 Jahren für unbekannte und neue Comics kämpfenden „Jaja – Verlag“ gebührt eine Menge Lob für die prächtige Ausstattung des Bandes mit Schwarzschnitt, Lesebändchen und gutem Papier. Und hat irgendwer etwas dagegen, dass die Stadt Berlin einen solchen kaum kommerziellen Comic fördert? Oder dass er von sonst nicht unbedingt comicbegeisterten Qualitätsmedien ausgesprochen breit besprochen wird? Ich nicht. Und ich will mich nicht streiten. Ich würde Über Leben wirklich gerne gut finden. Aber.

Ganze Seiten lang bleibt schwer nachvollziehbar, was eigentlich gerade geschildert wird. Shimizus frühere Comics mit dem gleichen Personal sind in einem zumindest ähnlichen Stil gezeichnet, aber in der Regel ausgesprochen klar strukturiert. Möglicherweise spielte Zeitdruck hier hier und da eine vergleichbar große Rolle wie ästhetische Überlegungen.

© Shimizu, Jaja – Verlag

Und so stimmig, wie das grundsätzliche graphische Konzept von Über Leben ist, so ungefähr scheint das inhaltliche zu sein. Handlung, Dramaturgie und Figurenzeichnung wirken teilweise wie improvisiert, setzen aber gleichzeitig voraus, dass wir sie auf Augenhöhe ernst nehmen und uns bis in die Einzelheiten bis zum Ende einprägen. Längere Passagen, die nichts mit der Miet – und Mordgeschichte zu tun haben, wirken wie Fremdkörper – darunter interessante, aber sich in keiner Hinsicht einfügende Seiten über das Bauhaus.

Andere Nebenwege der Erzählung, wie der Abschnitt über Makis Erinnerung an ihre gewalttätigen Eltern, vielleicht die stärkste Passage des ganzen Buchs, werden zwar durch eigene Kapitel abgesetzt, aber dafür kaum mit dem Rest der Geschichte verbunden. Die ersten 150 Seiten passiert wenig und das mit Wiederholungen, während sich später die Ereignisse überschlagen. Der Grundeinfall der Geschichte, Makis herumirrender Geist, wird ohne jede Vorbereitung in der Mitte eingeführt und später offensichtlich immer wieder einfach vergessen (worüber sich Makis Geist dann auch beschwert, was die Sache aber nicht unbedingt besser macht).

400 Seiten sind ganz schön viel Comic. Die gelungenen Graphic Novels im engeren, „autobiographischen“ Sinn mit einem auch nur vergleichbaren Umfang lassen sich an einer Hand abzählen. Zumindest mir drängt sich die Frage auf, wie wohl eine 100- oder 200seitige Bearbeitung des gleichen Materials ausgesehen hätte.

©  Shimizu, Jaja – Verlag

Der Inhalt ist dabei zum Teil nassforsch krude: Das Atelier unserer Comiczeichner*innen ist mit Abhörgeräten verwanzt. Der Vermieter entpuppt sich als faschistischer, seine Frau schlagender Sexualmörder, der Minderjährige nötigt, Obdachlose zusammentritt und für den Mord an unserer Hauptfigur verantwortlich ist. „Solche bösen Wahnsinnigen dürfen alles“, schluchzt Adagio zitternd. „Und wir dagegen nichts….!!“ Jetzt macht der Comic natürlich an allen Ecken und Enden deutlich, wie hochgradig subjektiv er ist und wie wenig interessiert an Realismus. Trotzdem werden solche paranoiden Exzesse in keiner Hinsicht gebrochen oder ironisiert, sie werden im Gegenteil wie der ernste Anker der Geschichte behandelt und als zumindest im künstlerischen oder stilisierten Sinn wahr.

Die Geschichte beginnt und endet damit, dass positive Figuren alternative, silberne „Stolpersteine“ auf der Straße verlegen, die an ermordete Frauen erinnern sollen. Hm. In der Mitte des Buchs wettern die gleichen Figuren gegen die Relativierung der eigentlichen, goldenen „Stolpersteine“, die den Opfern des Holocaust gewidmet sind. Es ist sicherlich möglich, das nicht als Widerspruch zu sehen, aber vielleicht könnte genau diese Position dann doch auch noch einmal mit ein, zwei Sätzen skizziert werden. Ebenso unscharf bleibt die an sich durchaus lustige (wenn auch wiederum erzählerisch kaum eingebundende) Karikatur einer quengelig- gutgelaunten „Fridays For Future“- Göre. Was will uns die Autorin damit sagen? Oder haben Neuköllner Millennials prinzipiell etwas gegen die Generation Z? Da würde ich gerne mehr drüber wissen, aber alle politischen Positionierungen werden vorausgesetzt. „Ihr wisst schon, was ich meine“ ist bei einem 400seitigen avantgardistischen Comic über Reizthemen kein sonderlich einladender Ansatz. Ich zumindest weiß häufig ehrlich nicht, was sie meint, und ich lebe praktisch um die Ecke, habe Erfahrung mit vergleichbaren Szenen und interessiere mich für die behandelten Themen. Ich befürchte fast, dass es Eingeweihte gibt, denen die weltanschaulichen Schlenker und vielleicht auch die abgebrochenen Erzählstränge von Über Leben als ganz selbstverständlich erscheinen, und dass der „Gnadenlose Comic über Gnade“ (so der Verlag) in Wahrheit gnädig eine spezifische Filterbubble bedient. Zumindest scheinen einige extrem positive Rezensionen aus weniger comicaffinen Ecken, die ausgerechnet die inhaltliche Ausrichtung loben, darauf hinzuweisen.

Diese kleine Welt würde ich gerne vorgestellt und karikiert bekommen, wie Bretécher, Trudeau, Poth, Seyfried, Becker, König usw. ihre jeweiligen Szenen für ein mindestens teilweise uneingeweihtes Publikum geöffnet, hinterfragt und verewigt haben. Und das Format „Szenecomic“ mit ambitionierter Zeichenkunst, einer großen Erzählung über unsere Gesellschaft und einer individuellen Anamnese nachvollziehbar zu verbinden, das wäre ein großer Wurf, den wir Maki Shimizu für die Zukunft auf jeden Fall zutrauen sollten.

Sehr viele Seiten, sehr viele Klischees und streckenweise wenig Stringenz, dafür großartige, wilde Grafik mit fantastischen Figurendesigns. Schade, aber trotzdem unbedingt mal reinschauen!

6von10Über Leben
Jaja Verlag, 2021
Text und Zeichnungen: Maki Shimizu
400 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 27,00 Euro
ISBN: 978-3-948904-01-2
Leseprobe

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken dieses Formulars erklärst du dich mit unserer Datenschutzerklärung einverstanden.