Vielleicht wird er immer der „andere“ Spider-Man bleiben: Als Klon Peter Parkers stand Ben Reilly stets im Ruf, ein bloßer Abklatsch des berühmten Spinnenhelden zu sein. Die neue, gesammelt bei Panini erscheinende Reihe Beyond (in US-Heftform zwischen 2021 und 2022 publiziert) könnte das ändern und Ben Reilly 30 Jahre nach der unsäglichen Clone Saga endlich die epische Storyline verpassen, die er verdient. Beyond beginnt mit Band 1 jedenfalls vielversprechend.
Wer ist Ben Reilly? Sein Debüt feierte er bereits 1973, als Autor Jerry Conway nach einer Möglichkeit suchte, Peter Parkers tragisch verstorbene Freundin Gwen Stacy wieder auftauchen zu lassen. Die neue Gwen stellte sich als Klon heraus, geschaffen vom wahnsinnigen Biologieprofessor Miles Warren, der immer schon von der jungen Frau besessen war. Als Superschurke „The Jackal“ klonte Warren aber nicht nur Gwen, sondern auch Peter, um den Klon dann gegen Spider-Man kämpfen zu lassen. Peter besiegt seinen vermeintlichen Klon und entsorgt die Leiche kurzerhand in einem Kaminschlot. Zeitsprung in die 90er: Was, wenn der Klon damals nicht verbrannt ist, sondern überlebt hat? Diese Idee bildet den Ausgangspunkt der sogenannten Clone Saga (1994-1996) eine sich über mehrere Jahre erstreckende Storyline, die durch eine Vielzahl von Autoren, Redakteuren und Künstlern wanderte und zum verlagspolitischen Desaster für Marvel wurde. Viele treue Spider-Man-Leserinnen und -leser sprangen damals bei der verworrenen Geschichte, die einfach kein Ende finden wollte, ab. Dies lag am wenigsten an ihrem sympathischen Helden: Der Klon, der sich selbst den Namen Ben Reilly gibt („Ben“ für Onkel Ben, und „Reilly“ für den Mädchennamen Tante Mays), kommt nach fünf Jahren der Wanderschaft – dokumentiert u.a. in der tollen Reihe Spider-Man: The Lost Years (1995) – nach New York zurück. Der Grund: Tante May ist ins Koma gefallen. Ben besitzt dieselben Erinnerungen wie Peter, darum fühlt er sich immer noch zu ihr hingezogen, auch wenn er weiß, dass seine Erinnerungen eigentlich nicht ihm, sondern Peter gehören. Darin liegt die ganze Tragik von Ben Reillys Figur: Er ist sich bewusst, dass seine Vergangenheit nicht echt ist, und trotzdem bleibt sie alles, woran er sich orientieren kann. Die daraus folgende Identitätskrise ist der vielleicht spannendste Aspekt der gesamten Clone Saga: Meine Gefühle sind doch echt, wie kann ich eine bloße Kopie sein?
Der Beginn von Beyond spiegelt den Beginn der Clone Saga. Statt Tante May liegt nun Peter im Koma, nachdem er sich im Kampf mit der Schurkentruppe U-Foes übernommen hat. Kurz zuvor war Ben Reilly wieder in Peters Leben getreten, um ihm vorsichtig nahezulegen, das Heldendasein in Zukunft Ben zu überlassen. Ben arbeitet mittlerweile für die Beyond Corporation, eine Firma mit unklarer Agenda, die den Markennamen „Spider-Man“ von Parker Industries erworben hat. Das war deswegen möglich, weil – wir erinnern uns an jene denkwürdige Storyline, in der Doc Ock in die Rolle Peter Parkers schlüpfte (The Superior Spider-Man, 2013-2014) – Peter nach der Wiedererlangung seines Körpers die von Doc Ock in der Zwischenzeit gegründete Firma mitsamt der Marke „Spider-Man“ verkauft hat. Bevor er ins Koma fällt, gibt er Ben noch seinen Segen, dass dieser in Zukunft als Spider-Man für Recht und Ordnung sorgen darf.
Peter Parker ist also aus dem Spiel genommen und die Geschichte kann ganz auf Ben Reilly fokussieren. Das war schon in der originalen Clone Saga so, in der Ben als „Scarlet Spider“ zwischen den Häuserschluchten New Yorks herumschwang, während Peter aus New York wegzog, um mit Mary Jane eine Familie zu gründen. Der Unterschied ist nur, dass sich Ben nicht mehr als „von der Straße“ kommender Superheld bewähren muss, sondern jetzt eine Firma namens Beyond im Rücken hat, die ihn nicht nur mit allerlei technischen Gadgets ausstattet, sondern auch seiner Geliebten Janine Godbe ein Zuhause bietet. Beyond hat damals geholfen, Janine aus dem Gefängnis zu holen. Sobald die sinisteren Motive Beyonds immer deutlicher werden, fühlt sich Janine aber erneut wie eingesperrt – eine Ambivalenz, die von Zeichner Patrick Gleason symbolträchtig eingefangen wird, indem er die Rahmung der Penthouse-Glasfassade wie Gitterstäbe erscheinen lässt. Das ist nur ein Beispiel des (bis auf ein paar Ausnahmen) tollen Artworks, welches den gesamten Band durchzieht.
Ben zweifelt immer mehr an den Motiven Beyonds und fühlt sich von Konzernchefin Maxine Danger (was für ein sprechender Name!) zunehmend in die Enge gedrängt. Daraus entwickelt Beyond eine ganz eigene Dynamik, die an einen klassischen Verschwörungsthriller erinnert: Welch dunkles Geheimnis verbirgt die Firma? Welchen politischen Nutzen zieht sie daraus, Ben für ihre Ziele zu missbrauchen? Und wer sind die Hintermänner? Die meisten Antworten bleibt dieser erste Band noch schuldig, etabliert aber eine spannende Ausgangslage, die Lust auf mehr macht. Auch wenn viele Autorinnen und Autoren an Beyond beteiligt sind (neben Patrick Gleason gesellen sich noch Saladin Ahmed, Jed MacKay, Kelly Thompson, Zeb Wells und Cody Ziglar zum Schöpferteam), merkt man der Reihe an, dass alle an einem Strang ziehen. Das hebt Beyond auf angenehme Weise von der völlig unfokussierten Clone Saga ab. Wie für amerikanische Heftreihen üblich, bleibt ein gewisser episodischer Charakter natürlich trotzdem aufrecht: Manche dieser Episoden sind amüsant (etwa Tante May, die sich mit Doc Ock verbündet, um in Sachen Beyond zu ermitteln, Unconventional Means: Amazing Spider-Man (2018) #80.BEY), manche unheimlich (die Szene mit Peter und Mary Jane im Keller des Krankenhauses könnte aus einem Horrorfilm stammen, Beyond Chapter 8: Amazing Spider-Man (2018) #82) und manche bestechen schlicht durch ihre rasanten Actionsequenzen (etwa Bens Team-Up mit Misty Knight und Colleen Wing, Beyond Chapters 3-4: Amazing Spider-Man (2018) #77-78). Was Letztere betrifft, droht die Serie ein bisschen ihren Fokus zu verlieren, da Kelly Thompson offensichtlich lieber über ihre beiden weiblichen Heldinnen schreibt, als Bens Geschichte weiterzuerzählen. Dafür kommt man in Ziglars Episode (Beyond Chapter 6: Amazing Spider-Man (2018) #80) voll auf seine Kosten: Der Superschurke Kraven macht Jagd auf Ben und setzt ihn unter Drogen. Unter Halluzinationen wird Ben mit seinem eigenen Identitätsverlust konfrontiert: „Ich bin ein leeres Blatt. Simple Kopie größerer Männer…“ (Übersetzung: Michael Strittmatter). Michael Dowlings Zeichnungen lassen einen surrealen Horrortrip vor unseren Augen entstehen, in dem sich Bens Persona buchstäblich aufzulösen droht. Ein Glanzpunkt der Reihe, auch deswegen weil er jenen Persönlichkeitskonflikt beleuchtet, den Ben Reilly immer schon mit sich herumschleppt.
Der Konflikt zwischen neuer Identitätsfindung und Last der Vergangenheit prägt den gesamten Comic. Einerseits wird versucht, Ben Reilly sein eigenes Profil zu geben, was sich z. B. daran ablesen lässt, wie viel Raum die Beziehung zu seiner Freundin Janine Godbe in Beyond bekommt. Andererseits bleibt die Geschichte aber stark in der Vergangenheit verhaftet, indem Ben sich in erster Linie mit Peter Parkers Schurkengalerie (Doc Ock, Kraven, Morbius etc.) herumschlagen darf, anstatt sich anhand der Interaktion mit neuen Figuren mehr vom traditionellen Spider-Man zu emanzipieren. Mit Maxine Danger zeichnet sich immerhin eine neue (und enorm bedrohliche) Antagonistin ab, bei der Ben vielleicht endlich Gelegenheit finden wird, aus Peters Fußstapfen herauszutreten. Man darf gespannt sein.
Ben Reilly schlüpft wieder ins Spider-Man-Kostüm
Panini, 2024
Text: Saladin Ahmed, Patrick Gleason, Kelly Thompson u.a., Zeichnungen: Eleonora Carlini, Michael Dowling, Ivan Fiorelli u.a.
Übersetzung: Michael Strittmatter
340 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 39,00 Euro
ISBN: 978-3-7416-3670-7