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Snapdragon

Auf der letzten Verleihung des Max-und-Moritz-Preises hat sich abgezeichnet, was auch mir schon immer plausibel erschien: Kinder mögen Grusel. Während Max-und-Moritz-Preisträger Boris Babette und lauter Skelette eher spielerisch an die Sache rangeht, geht es im nominierten, aber leer ausgegangenen Snapdragon tatsächlich sehr unheimlich zur Sache.

In einer kleinen Stadt. Alle Abbildungen © Reprodukt

Die titelgebende Snapdragon (engl. für Löwenmäulchen) ist ein wildes, unangepasstes Kind. Auf der Suche nach ihrem verschwundenen Hund Oldboy wagt sie sich in ein altes Hexenhaus im Wald, in dem eine unheimliche Alte wohnt. Dieser sagt man nach, sie esse Tiere. Also nicht nur Schnitzel oder so, sondern Haustiere, Wildtiere, tote Tiere am Straßenrand. Snapdragon findet dort tatsächlich ihren Hund, und ihm fehlt ein Bein! Ein erster Schreck für Snap, dem gleich ein zweiter folgt. Plötzlich steht die Hexe im Türrahmen, und die gibt sich größte Mühe, auf keinen Fall die Angst auszuräumen, die jeder und jede vor ihr hat. „Ich esse ihn Stück für Stück“ sagt sie zu Snap, die vor lauter Schreck sofort Reißaus nimmt.

„Roadkill Witch“ wollte Kat Leyh den Comic ursprünglich nennen, denn neben dem Mädchen Snapdragon ist die Hexe ebenso Hauptfigur. Aber dann entschied sich Kat Leyh doch für den freundlicheren, weniger unheimlichen Titel; vermutlich die richtige Entscheidung. Welcher Leser, welche Leserin will sich schon mit der Roadkill Witch identifizieren? Die ersten Cover-Entwürfe unter dem Entwurfstitel waren richtig gruselig.

Zurück zum Plot: Snapdragon lässt sich nicht abschrecken und sucht, nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hat, die Nähe zur Hexe, die natürlich auch einen Namen hat: Jacks. Und eine Biografie hat sie auch, jede Menge Geheimnisse – und nein, sie hat das Bein des Hundes nicht gegessen. Sie hat den Hund nach einem Unfall wieder aufgepäppelt. Je mehr Snap hinter die Fassade von Jacks blicken darf, desto mehr erkennt sie den Menschen hinter der gruseligen Fassade – aber je mehr sich Jacks als Mensch entblättert, desto mehr Geheimnisse liegen dann doch wieder hinter dem, was sich als  vermeintlich „normal“ entpuppt hat.

Unheimliche Dinge passieren.

Snapdragon ist ein Comic, bei dem der sense of wonder nie verloren geht. Von Anfang an geschehen unheimliche Dinge, die von Snap und ihrer Umgebung in Frage gestellt werden. Anders als in der klassischen Detektivgeschichte aber hält mit der Auflösung der Rätsel nicht der nüchterne Alltag Einzug, stattdessen öffnet des Rätsels Lösung stetig Türen zu neuen Wundern.

Nun gibt es zwei Herangehensweisen, mit dem Unheimlichen umzugehen:

  • Man kann aus Angst vor dem Unbekannten sein Leben einengen und sich ins Vertraute zurückziehen.
  • Man kann aber auch – wie Snap – beherzt und mutig genug sein, sich Ängsten zu stellen. Nur so öffnen sich die Türen zu einer umso reichhaltigeren Welt.

Das Einzige, was am Ende wirklich beängstigend bleibt, sind die Menschen, die an ihren Vorurteilen festhalten und einer Entwicklung keinen Platz beimessen wollen. Snap aber tritt tapfer in die Welt, stellt sich dem Neuen und erhält die Belohnung dafür. Das macht Snapdragon zu einem sehr beglückenden Leseerlebnis. Das gibt Snapdragon auch eine Message – die aber subtil bleibt und nicht den alleinigen Sinn der Erzählung bestimmt.

Snapdragon ist eine vielschichtige Geschichte. An vielen Stellen unheimlich, aber nie beklemmend, voller Witz und Charme – und hinter der kratzbürstigen Fassade auch sehr warmherzig. Snapdragon erinnerte mich beim Lesen sehr daran, wie es war, die Welt mit Kinderaugen zu sehen – damals, als die Welt tatsächlich bereits in der nächsten Umgebung weitläufig und unübersichtlich wirkte, jede Person alles sein konnte, Potenziale noch ungenutzt oder unbekannt waren.

Kat Leyh beweist ein gutes Gespür für authentische Tierdarstellungen.

Kat Leyh ist eine hinreißende grafische Erzählerin, die mit perfekter Erzählökonomie eine temporeiche, spannende und bezaubernde Geschichte erzählen kann. Scheinbar mühelos hält sie ein gar nicht so kleines Figurenensemble in der Luft und zeigt dabei ein gutes Gespür für gefährliche Situationen ebenso wie für den bereits erwähnten sense of wonder. Dabei gelingt ihr mehrmals eine Steigerung von alltäglicher Gefahr (ein gefährlicher Waldweg, eine riskante Fahrradfahrt, ein böser Freund) hin zur völligen Überhöhung von Angst (allein im Graben, ein Monster kommt), dass man sich bei der geschickt inszenierten Steigerung an den Horrormeister höchstpersönlich, Stephen King, erinnert fühlt. Und wie der King of Horror hat Leyh ein gutes Gespür für das Alltägliche und die kleinen Wunder des Alltags – wenn man empfänglich dafür ist. Anders als King kann man Kat Leyhs wundervollen Comic aber bedenkenlos auch Kindern überlassen. Sie dürfen sich auf ein außergewöhnliches Leseerlebnis freuen.

Snapdragon ist ein Comic, bei dem der sense of wonder nie verloren geht.

10von10Snapdragon
Reprodukt, 2023
Text und Zeichnungen: Kat Leyh
Übersetzung: Matthias Wieland
236 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 20 Euro
ISBN: 978-3956403866
Leseprobe

Anmerkung: In einer ersten Version war das Wort „snapdragon“ irrtümlich mit „Löwenzahn“ übersetzt. Aber Löwenzahn ist natürlich dandellion.

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