Die Pariser Jahrhundertflut von 1910 bildet das Hintergrundszenario für Léo Henrys und Stéphane Pergers ambitionierten Comic Sequana, der als BD-Dreiteiler zwischen 2007 und 2008 in Frankreich erschien. Auf knapp 150 Seiten entwerfen die beiden in einer komplexen Geschichte und mittels beeindruckender Zeichnungen ein Sittengemälde Frankreichs wenige Jahre vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs. Dass der Comic doch noch in Deutschland erscheint, ist – das sei vorweggenommen – ein Glücksfall.
Wenn TV-Serien die Romane unserer Zeit sind und wenn der literarische Roman ein Spiegel jener Gesellschaft ist, der er entspringt, dann ist es doch ein wenig erstaunlich, wie wenig die Inhalte dieser Serien reflektiert werden. Man bejubelt die überragenden handwerklichen und dramaturgischen Leistungen von Breaking Bad, The Wire und House of Cards, aber es wird nicht gefragt, warum gerade bestimmte Serien uns in ihren Bann ziehen und andere, ebenso toll geschriebene und inszenierte, eben nicht.
Oberflächlich hat der Erfolg der BBC-Schmonzette Downton Abbey mit der Sehnsucht nach der Belle Epoque, einer Ära schöner Mode, niveauvoller Konversation und einer gewissen Übersichtlichkeit und Langsamkeit der Ereignisse zu tun. Dabei ist keine Serie in der Zurschaustellung ihres Themas offensiver: Das schöne Leben der Privilegierten wird jenen gegenübergestellt, die für sie arbeiten und diese eleganten Leben erst ermöglichen. Während die Bohémiens ihre Zeit in hellen, weitläufigen Räumen mit Intrigen, Konversation und Briefeschreiben verbringen, schuften die anderen im dunklen Souterrain und sorgen für einen reibungslosen Ablauf bei der Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Herren. Knapp zwei Dutzend versorgen eine Handvoll. Was sie in diese Situation hineingebracht hat? Ihre Geburt, natürlich. Es ist schon ein wenig überraschend, aber es sind weniger die vielfach mediatisierten Themen wie der angebliche Krieg zwischen den Kulturen oder die digitale Revolution, die uns 2015 bewegen. Angesichts des drohenden sozialen Abstiegs stellt sich der fernsehschauende Mittelstand wieder die Fragen nach Klassenzugehörigkeit, der Verteilung von Reichtum (=der Verteilung von Macht) und sozialer Gerechtigkeit. Und das passiert auch im anspruchsvollen Comic.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit — und damit kommen wir zurück nach Frankreich, in das Paris der Zehnerjahre. Auch in Sequana findet man diese Aufteilung zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen. Und entlang der Trennung zwischen diesen Lagern verlaufen nicht zufällig auch die Grenzen von Macht und Gerechtigkeit (bzw. ihrer Ohn- und Un-Form).
Januar 1910. Schwere Regenfälle verursachen einen historischen Anstieg der Seine und innerhalb von wenigen Tagen stehen etliche Arrondissements unter Wasser. Die Versorgungssituation wird akut, das Chaos erobert peu a peu die Stadt. In dieser Ausnahmesituation kreuzen sich die Lebenswege dreier Menschen von gänzlich unterschiedlicher Herkunft. Da ist einmal Emmanuel Challes, der katholische Erzbischof von Paris. Ganz in apokalyptische Metaphorik verliebt, meint der Monsignore in der Flut einen Akt Gottes zu erkennen. Paris soll von seinen Sünden gesäubert werden und Challes sieht sich dazu auserwählt, diesen Prozess anzuführen. Der alte Mann ist es, mit dem der Comic eröffnet, aber spätestens als der Arzt Treignac gerufen wird, erfahren wir den Grund für Chelles manisch-trübe Wahrnehmung: Es handelt sich um die vermeintlichen Folgen eines Hirnschlags. Der zweite Protagonist ist Jeannot Faure, ein Mann auf der Flucht. Der Anarchist, ein Mann von unten, ein einfacher Feldarbeiter, ist vor dem Wehrdienst geflohen und wird nun vom Staat gesucht. Das chaotische Paris scheint zunächst ein guter Aufenthaltsort für ihn zu sein, der anarchistische Untergrund hilft ihm beim Untertauchen. Als er bei einem Clinch mit einer reaktionären Gruppe verletzt wird, ist es Arzttocher Alice Treignac, die sich seiner annimmt. Der frühe Tod ihrer Mutter hat Alice vor allzu großer Frömmigkeit bewahrt. Sie ist eine modern denkende, emanzipierte Frau, eine die sich einmischt, Partei ergreift und versucht, den Lauf der Geschichte zu ändern. Sie gibt ihr humanistisches Weltbild nie auf, auch nicht, als die Menschen in ihrem Umfeld sich als ihres Vertrauens unwürdig erweisen. Alice ist die Figur, die uns am nächsten steht und man fiebert mit ihr mit. Immer wenn die Konflikte eskalieren oder die Handlung droht in einer Sackgasse zu ersticken, ist es Alice, die mit Vernunft und Empathie dem Lauf der Geschehnisse neue Impulse gibt.
Neben den authentisch geschrieben Figuren und Dialogen ist es vor allem die grafische Gestaltung von Stéphane Perger, die den Leser komplett in die Welt von Sequana eintauchen lässt. Seine phantastische Aquarell-Technik verfügt über ein außergewöhnliches Detailreichtum und eine große Bandbreite. Perger bedient sich sowohl des Photorealismus, aber setzt auch abstrakte Akzente, scheint in jedem Panel darum bemüht, nicht den spektakulärsten, aber wirkungsvollsten Blickwinkel zu wählen und verfügt über ein sicheres Gespür für Rhythmus. Dabei verliert er nie das große Ganze und die Atmosphäre aus den Augen. Die dunkle Stimmung und das Thema des Wassers als reflektierende Oberfläche taucht immer wieder auf, aber es sind die großformatigen Panels über ein bis zwei Seiten, vor allem jene, in denen Notre Dame abgebildet ist, wenn einem ein nasskalter Schauer über den Rücken läuft.
Sequana könnte französischer nicht sein. Nicht nur thematisch, auch von seinem Sound und seinem Aufbau her. Wer einmal Romain Rolland, Victor Hugo, Emile Zola oder Gustave Flaubert gelesen hat, wird wissen, dass die klassischen Franzosen im Gegensatz zu ihren englischen Kollegen dem Plot keine große Bedeutung beigemessen haben. Ihre Romane sind vielmehr Milieustudien und fühlen sich der Erkundung von sozialen und psychologischen Themen verpflichtet. Und Henrys Gesellschaftsentwurf in Sequana enthält im Ansatz jene Komplexität, die man sonst aus großen Romanen kennt. Was Sequana allerdings fehlt, um auf eine Stufe mit einem Meisterwerk wie dem strukturell nicht ganz unähnlichen From Hell zu kommen, ist zwar nicht viel, aber leider wesentlich. Gewiss könnte man die Zuspitzung der Dramaturgie bemängeln. Zudem spielen auf so wenigen Seiten derart viele Figuren mit, dass eine emotionale Bindung schwerlich aufgebaut werden kann. Aber das ist nicht wesentlich. Das Problem an Sequana ist schlicht die fehlende Zeit — sowohl der ihrer Schöpfer, um ihre Geschichte adäquat zu erzählen, aber auch die des Lesers, um gänzlich (und gründlich) in eine fremde Welt abzutauchen.
Nach dem Abschluss des Bandes hat Henry in ein paar Seiten Epilog den späteren Werdegang seiner Figuren skizziert und in einem dossierartigen Anhang sogar noch einmal vertieft. Zu gern hätte ich diese Menschen auf ihrem weiteren Lebensweg begleitet, neugierig, ob und wie jene Ereignisse aus dem Januar 1910 ihr Leben geprägt haben. Alleine dafür gibt es keinen Raum und das ist, man muss es leider konstatieren, auch dem Medium geschuldet. Es steht für mich außer Zweifel, dass Leo Henry die intellektuellen und erzählerischen Fähigkeiten zu einem großen grafischen Roman gehabt hätte. Es ist alles angelegt, aber zu mehr reichte es nicht in den drei mal 48 Seiten, die ihm zur Verfügung standen. From Hell hat für die Komplettierung der sich über zehn Bände erstreckenden Geschichte sieben Jahre gebraucht und kam am Ende auf 572 Seiten. Um eine bestimmte erzählerische Komplexität und Feinheit der Charaktere zu erreichen, um also wirklich von einer Graphic Novel im Sinne eines ROMANS und nicht, wie allzu oft falsch übersetzt, einer Novelle zu sprechen, dafür bedarf es einer monströsen zeichnerischen Anstrengung. Dieses Opfer wird aber auf der anderen Seite weder durch eine große Relevanz noch durch wirtschaftliche Argumente aufgefangen. Das Medium Comic ist, was die Langstrecke angeht, in einer Zwickmühle.
Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, inwieweit Comicleser, die gewohnt sind, einen Comicband in der Länge eines Spielfilms zu lesen (also maximal circa zwei Stunden), bereit sind, sich mit einem epischen, komplexen Werk auseinanderzusetzen. From Hell ist nicht Moores bekanntestes Werk, weil es von seinen Comicarbeiten jenes mit dem kleinsten Anteil an Genre ist. Es wird gerne übersehen und höchstens als Ergänzung zu seinem Superhelden-Epos Watchmen und der Science-Fiction-Dystopie V for Vendetta, einem in meinen Augen recht plakativen Frühwerk, genannt. Wenig Genre + epische Länge = Überforderung des gemeinen Comiclesers? Und den Romanleser erreicht man gar nicht erst mit der epischen Graphic Novel. Quo Vadis, Langformat?
Fernsehserien galten vor gut einem Jahrzehnt nicht viel mehr als Comics heute. Sie wurden als seicht und oberflächlich abgetan. Die industriellen Produktionsstrukturen schienen keineswegs vereinbar mit der Vision eines Auteurs. Dieser trieb (und treibt) sich bevorzugt im Kino herum, dem Edelmedium des Bewegtbildes. Das hat sich geändert, zumindest teilweise. Etliche Serien haben mittlerweile bewiesen, dass sich intelligentes und radikales Erzählen mit einem horizontalen Format vertragen kann und dass sich mit einem Mindestmaß an Genre und/oder „emotionaler Figurenführung“ (Codewort für Soap-Opera) sogar ein größeres Publikum erreichen lässt. Und wenn es am Ende die Fernsehrechte sind, die für den immensen zeichnerischen Aufwand und das wirtschaftliche Risiko entschädigen – ich sehe lohnendes Potenzial für seriell erzählte Erwachsenencomics, wo das Genre etwas weniger, dafür die literarische Tiefe mehr im Vordergrund steht. Auch in Deutschland gibt es dahingehend erste Vorstöße.
Der Splitter-Verlag hat auf der Rückseite den PR-Text der französischen Ausgabe übernommen. Demnach handelt es sich bei Sequana um “eine stimmungsvolle Stadtchronik für alle Paris-Fans und jene, die es werden wollen!”. Das ist vielleicht nicht ganz falsch, aber doch ziemlich verkürzt und viel zu gut gelaunt. Wenn es allerdings gelingt, damit auch nur einen Leser mehr für dieses tolle Album zu gewinnen, werde ich das gerne unterschreiben.
Splitter Verlag, 2015
Text: Léo Henry
Zeichnungen: Stéphane Perger
160 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 29,80 Euro
ISBN: 978-3958390454
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