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Rostige Herzen 1 – Debry, Cyrano und ich

Bishop, Data und HAL – Androiden und Künstliche Intelligenzen sind eine herrliche Projektionsfläche für menschliche Probleme. Der erste Band der Serie „Rostige Herzen“ von Munuera und Beka erzählt vom Ende der Menschlichkeit angesichts künstlicher Maschinen.

Alle Abbildungen © Carlsen Verlag

Das Setting von Rostige Herzen ist eine retrofuturistische Welt, die man gern als „Steampunk“ bezeichnet. Einerseits wird man in eine frühindustrielle Vergangenheit zurückversetzt, andererseits gibt es Handlungselemente, die in die Zukunft gehören. Kurz: Androiden auf Baumwollplantagen. Die Handlung spielt nicht explizit in den USA, aber viele Details machen es wahrscheinlich, dass die Geschichte sich auf dem nordamerikanischen Kontinent des 19. Jahrhunderts spielt.

Das junge Mädchen Isea ist eine Einzelgängerin, die auf dem Schulhof gern abseits ihrer ballspielenden Altersgenoss*innen sitzt und auf einer Art Hologramm-Tablet herumspielt. Ihre beste Freundin Tal hat ihr einen Film empfohlen, den sie nun mit großer Neugier wieder und wieder anschaut: Cyrano de Bergerac.

Die Gartenszene mit Cyrano de Bergerad, Christian und Roxane in verschiedenen Adaptionen. Hier sind die Filmfassungen von 1950 (oben links) und 1990 (oben rechts) zusehen und der Comic (unten).

Der Film, basierend auf einem Theaterstück von Edmond Rostand von 1897, handelt von Äußerlichkeiten und inneren Werten. Cyrano de Bergerac liebt Roxane, leider aber unter dem körperlichen Makel seiner auffällig großen Nase. Er flüstert dem jungen Christian im Dunkel der Nacht wohlformulierte Liebesschwüre zu, mit denen er die auf dem Balkon stehende Roxane beeindruckt. Sie ahnt nicht, dass nicht der schöne Christian Urheber dieses poetischen Liebesgeständnisses ist, sondern Cyrano.

Iseas Verhältnis zu Tal (die Namensähnlichkeit mit Stanley Kubricks Psycho-KI aus dem Science-Fiction-Klassiker 2001 scheint soweit rein zufällig zu sein) beruht auf einer ähnlich falschen Voraussetzung, denn hinter Tal, die bisher nur online Kontakt zu Isea pflegt, verbirgt sich Iseas schüchterner Klassenkamerad Tilio, der gern mit ihr befreundet wäre, aber nicht so recht weiß, wie er das anstellen soll. Er nutzt eine Videosoftware, um Isea vozugaukeln, er sei ein Mädchen – und Iseas einzige Freundin.

Iseas einzige Freundin ist erstens nur ein digitaler Avatar und zweitens versteckt sich dahinter ihr schüchterner Mitschüler Tilio.

Iseas soziale Isolation in der Schule ist nur ein Spiegelbild ihrer Bindungsprobleme zuhause. Ein Vater ist nirgends zu sehen, und ihre Mutter erfüllt die Rolle einer abwesenden Mutter bis zur Perfektion. Ihre Lieblosigkeit im Umgang mit ihrer Tochter kommt selten zur Geltung, weil sie kaum Zeit mit ihr zu verbringen gewillt ist. Die Erziehung übernimmt weitestgehend die Tagesmutter Debry, ein Haushaltsandroide mit sozialen Aufgaben. Für Iseas Mutter ist sie „nur ein Roboter“, für Isea selbst spielt es keine Rolle, ob sie menschlich oder künstlich ist. Als ihre Mutter Debry wegschickt, macht Isea sich zusammen mit Tilio (bzw. Tala) sich auf die Suche.

In vielen Science-Fiction-Serien sind Androiden nur schmückendes Beiwerk, um die technologische Überlegenheit der dargestellten Welt anschaulich zu machen. Oft aber dienen sie auch dazu, um die großen Fragen von Menschlichkeit und Autonomie zu illustrieren wie in Jeff Lemires und Dustin Nguyens großartiger Serie Descender – hier gibt es eine kleine Zusammenschau „Künstliche Intelligenz im Comic“.

Jose Luis Munuera (Spirou und Fantasio, Die Campbells) und das Autorenduo Beka (das sind Bertrand Escaich und Caroline Roque) haben in Rostige Herzen ein Setting etabliert, das von der ersten Seite an den Zwiespalt einer industrialisierten, aber doch landwirtschaftlich gesprägten Welt deutlich macht. Die Kinder sind gekleidet wie im 19. Jh., aber mittendrin sitzt ein Mädchen mit einem Hologramm-Projektor, von dem heutige Apple-Fans noch träumen müssen. Die Roboter erfüllen niedere Tätigkeiten als Arbeiter auf dem Feld oder als Hilfskräfte im Haushalt. Munuera und Beka lassen keinen Zweifel, dass die Beziehung zwischen Menschen und Androiden der amerikanischen Sklavenhaltung im 19. Jh. entspricht. Dass die Androiden auch zu Gefühlen fähig sind, entgeht uns Leser*innen nicht, aber den meisten Menschen innerhalb der Geschichte schon.

Isea kommt mit Menschen nicht so gut klar, aber Roboter, die hier meist einfache Aufgaben ausführen, sind gute Gesprächspartner für sie. Die Aussagen der Androiden sind typographisch hervorgehoben.

Isea hingegen ist anders. Ihre Beziehungen zu Tal und Debry beruhen nicht auf Äußerlichkeiten, und sie lehnt Tilio nicht ab, weil dieser das falsche Geschlecht hätte, und Debry nicht, weil sie nicht aus Fleisch und Blut wäre. Sie erkennt die Identität beider hinter der jeweiligen Fassade, ganz so wie Roxane in der Geschichte über Cyrano de Bergerac.

Die Zeichnungen von Munuera sind unglaublich effektiv: Viele Szenen kommen ohne Worte oder mit wenig Text aus, um notwendige Informationen scheinbar nebenbei zu vermitteln: raffiniertes showing statt plumpem telling. Wer Munueras Zeichnungen bereits aus seinen erfolgreichen Spirou-und-Fantasio-Comics kennt, wird den Stil rasch wiederkennen. Skurrile Charaktergesichter, rasante Perspektiv- und Einstellungswechsel, und großformatige Panels, die man ausschneiden möchte. Wenn er Tilio und Isea unter einem Regenschirm sitzend zeichnet, ihre Gesichter im Schatten versinken und ihre sich im Wasser abzeichnenden Silhouetten jede Äußerlichkeit vergessen lassen, weil nur noch die gemeinsame Pose zählt, ist das einfach wundervoll, vor allem, weil die Szene ohne Worte auskommt.

Die Geste des jungen Tilio, seinen Regenschirm zu teilen, ist wichtiger als die Details seiner Physiognomie: Die Gesichter versinken im Schatten. Und das Spiegelbild im Wasser reduziert die beiden völlig auf die gemeinsame Erfahrung. Hautfarbe, Geschlecht, Alter, die Größe von Nasen oder Fragen von Künstlichkeit oder Natürlichkeit spielen keine Rolle mehr.

Dass die Welt ihre Geheimnisse nach der Lektüre des ersten Bandes der Serie noch nicht offenbart hat, ist ein Gewinn. Wie viele Science-Fiction-Comics legen ein ganz und gar durchorganisiertes Setting mit einer selbstverursachten Globalkatastrophe und einer plausiblen Postapokalypse vor, ohne noch genug Energie aufzubringen, innerhalb dieser Welt noch eine spannende Geschichte zu erzählen. Rostige Herzen gelingt es, den Fokus ganz und gar auf die zwischenmenschlichen Beziehungen bzw. Mensch-Maschine-Interaktionen zu lenken.

Am Ende sind die Menschen weniger menschlich als die Maschinen – das ist keine neue Idee, wird von Munuera und Beka aber sehr charmant erzählt und überrascht im Detail doch immer wieder. Ein Stück Poesie wie heimlich eingeflüstert von Cyrano de Bergerac.

9von10Künstliche Intelligenz und menschliche Grausamkeit

Rostige Herzen 1 – Debry, Cyrano und ich
Carlsen Verlag, 2023
Text und Zeichnungen: Munuera und Beka
Übersetzung: Marcel Le Comte
72 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 18,00 Euro
ISBN: 978-3551799975
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