Das Finale von Tom Taylors Nightwing-Run hält, was es verspricht.

Covermotive von Nightwing #114. Zeichnungen: Daniel Sampere (Variant-Cover, links), Bruno Redondo (Hauptcover, rechts). © DC Comics
Man konnte schon skeptisch sein. Nachdem Tom Taylor im Rahmen der „Dawn-of-DC“-Initiative ein eher unrühmliches Kapitel aus Dick Graysons Vergangenheit wieder ausgrub, um kurz vor dem großen Finale noch Zeit zu schinden (hier nachzulesen), kamen schon Zweifel daran auf, ob Taylor seinen seit 2021 so erfolgreich laufenden Nightwing-Run zu einem würdigen Abschluss zu bringen vermag. Nun sind die letzten beiden Bände (welche die US-Einzelausgaben #111-118 abdecken) bei Panini draußen und man muss sagen: ja, der Abschluss ist gelungen!
Nightwings Vaterkomplex
Das hat vor allem damit zu tun, dass sich Taylor wieder auf den emotionalen Kern seiner Nightwing-Saga besinnt. Da ist es nur folgerichtig, dass die Band 3 eröffnende Ausgabe #114 Dicks Verhältnis zu seinem „Ziehvater“ Batman in den Fokus rückt. In Gotham wird ein Mordopfer gefunden, dessen Herz herausgebrannt wurde. Obwohl Batman schnell am Tatort ist, kann er den Killer nicht mehr fassen. Dafür entdeckt er am Schauplatz des Verbrechens ein Kind, das, schwer traumatisiert vom Tod des Vaters, allein zurückgeblieben ist. Batman kontaktiert Nightwing in Blüdhaven, da der Mord auf die Handschrift des Killers Heartless verweist. Der überlebende Bub, der seinen Elternteil betrauern muss, reißt bei beiden Superhelden aber alte Wunden auf – schließlich haben sowohl Bruce als auch Dick im Kindesalter ihre Eltern verloren. Es gehört zu Taylors wichtigsten Neuerungen, dass Dicks Eltern nicht, wie bisher angenommen, bei einem Unfall gestorben sind, sondern dass diese vom Gangster Tony Zucco ermordet wurden. Wer mit der Geschichte des ambivalenten Verhältnisses Batmans zu Nightwing vertraut ist, den wird die emotionale Zusammenführung der beiden Kindheitstraumata in einem Schlüsselmoment der Ausgabe kaum kalt lassen.

„Da ist ein Kind.“ Bruce nimmt Dick auf diesselbe Weise auf, wie er damals von Alfred aufgenommen wurde. (Zeichnungen: Redondo, © DC Comics)
Die Parallelisierung dieser traumatischen Kindheitsereignisse führt dazu, dass Batman Nightwing endlich als seinen Sohn akzeptiert, wobei Bruce später sogar sein Batman-Kostüm gegen Nightwings tauschen wird, um für ihn einzuspringen (#116) – so wie es Dick damals für Bruce tat, als er in den Nachwehen des DC-Events Final Crisis (2008-2009) Batman vertreten musste. (Viele vergessen ja, dass in einer der berühmtesten Batman-Stories – Scott Snyders The Black Mirror von 2011 – nicht Bruce Wayne, sondern Dick Grayson im Batman-Kostüm steckte!) Überhaupt zollt Taylor Nightwings Vergangenheit auf rührende Weise Tribut, insbesondere im wunderbaren One-Shot „Sein Tag“ (#113), der Dick inmitten seiner Freunde, Weggefährten sowie seiner großen Liebe Barbara Gordon Geburtstag feiern lässt. Die Party steigt dann auch passenderweise im „Marv & George’s Pizza“, einem Lokal, in dessen Namen sich eine liebevolle Hommage an die Schöpfer der Nightwing-Persona Marv Wolfman und George Pérez versteckt.

Happy Birthday Nightwing! Mit dem Namen des Lokals verneigt sich Taylor vor den Schöpfern dieser Figur (Zeichnungen: Redondo, © DC Comics)
„You got to learn how to fall, before you learn to fly“ – Paul Simon
Bevor es aber zu nostalgisch wird, zieht Tom Taylor die Spannungsschrauben an. In der letzten Storyarc „Fallen Grayson“ (Der tiefe Fall, #114-118) wird Nightwing Opfer eines Komplotts durch den Killer Heartless, der Dick Grayson die Schuld an seinen Morden zuschieben will. Taylor hat über seinen gesamten Run hinweg kleine Hinweise eingestreut, dass sich Heartless und Dick bereits seit Kindertagen kennen. Hinter dem Serienkiller, der durch das Sammeln von Herzen seine physische Konstitution zu verbessern und sein Leben dadurch künstlich in die Länge zu ziehen versucht, steckt der psychopathische Chef eines Pharmaunternehmens Shelton Lyle. Zwar hängt dieser Dick erfolgreich die Morde an, bevor er aber von der Polizei verhört werden kann, flieht Dick mit seiner dreibeinigen Hündin aus Blüdhaven, um sich endlich seinen Dämonen zu stellen.
Seitdem sich Dick mit Heartless herumschlagen muss, plagt ihn panische Höhenangst. Dies hat einerseits mit dem Trauma vom Tod seiner Eltern zu tun (zwei Zirkusartisten, die durch die Manipulation Zuccos in ihren Tod gestürzt sind), als auch mit einer chemischen Substanz, die Shelton Nightwing heimlich eingeflößt hat. Wo aber nun die Höhenangst überwinden, damit man einem gefährlichen Serienkiller endlich die Stirn bieten kann? Genau, in den luftigen Höhen des Himalaya-Gebirges. Unterstützung bekommt er dabei von Boston Brand, der sich nach seiner Widerbelebung durch die indische Gottheit Rama Kushna in der sagenumwobenen Stadt Nanda Parbat aufhält. Im Erklimmen eisiger Bergspitzen muss Dick nicht nur lernen, seine Angst vor dem Fall zu überwinden, die Expedition wird auch zur Lektion in Sachen Bewältigung von Kindheitstraumata. Zeichner Bruno Redondo, der Taylor über den Großteil seines Nightwing-Runs zur Seite stand, ahmt für die Zirkusszenen in der Vergangenheit das Punkteraster alter Comichefte nach und montiert diese geschickt parallel zu Szenen aus der Gegenwart, bei denen Dick in schwindelerregenden Höhen versucht, mit seiner Angst klarzukommen.
Den roten Faden bildet das Motiv des Fallens, das speziell bei Superhelden, die sich vorwiegend über Häuserschluchten schwingen, eine offensichtliche Gefahr darstellt. Im übertragenen Sinn steht der Fall von Superhelden aber immer auch für ihren moralischen, mentalen oder gesellschaftlichen Fall. Dick Grayson ist nicht nur in den Augen der Öffentlichkeit in Ungnade gefallen, indem er von Heartless als Mörder gebrandmarkt wurde. Er steckt auch insofern in einer Identitätskrise, als seine Furchtlosigkeit angesichts tödlicher Absprünge auf einmal in Zweifel steht.
Eine andere Storyline, die einem beim Motiv des Fallens sofort einfällt, ist die Daredevil-Storyline „Fall from Grace“ (Daredevil #319-#325) von Autor D. G. Chichester und Zeichner Scott McDaniel, die Anfang der 90er Jahre etwas Ähnliches versuchte. Im tollen Cover zur Prologausgabe sieht man Daredevil als kleinen roten Punkt vom Dach des Empire State Buildings fallen. Daredevil stürzt in „Fall from Grace“ aber nicht buchstäblich in die Tiefe, vielmehr fängt das Titelbild symbolisch den „Tod“ von Daredevils Persona Matt Murdock ein. Wo Chichesters und McDaniels Daredevil-Story im narrativen und visuellen Chaos der für die 90er-Jahre typischen Event-Comics untergeht, überzeugt Taylors und Redondos „Fallen Grayson“ aber durch Stilsicherheit und Präzision. Die übersichtliche Panelgestaltung Redondos ist ein ästhetischer Genuss, Taylors Geschichte herzerwärmend und ein echter Pageturner. Als solche bildet sie einen würdigen Abschluss für einen Helden, der angesichts schwindelerregender Höhen stets auf das Auffangnetz seiner Freunde, Weggefährten und (Ersatz-)Familie zählen kann. Taylors Nightwing-Run hat sich am Schluss als das bestätigt, was sich seit 41 Ausgaben und zwei Eisner-Awards bereits angekündigt hatte: ein Meisterwerk moderner Superheldencomics.

Helden, die zu fallen lernen. Links das Cover des Prologs zu Daredevil: Fall from Grace (Zeichnungen: Scott McDaniel, © Marvel Comics), rechts ein ganzseitiges Panel aus Nightwing #117 (Zeichnungen: Redondo, © DC Comics)
Punkteabzug gibt es nur aufgrund von Nightwing 2024 Annual #1, der ebenfalls in Band 3 der Panini-Ausgabe abgedruckt ist. Dieser stammt nicht aus der Feder Tom Taylors, stattdessen versucht Travis Moore (in Personalunion aus Autor, Zeichner und Inker), Bea Bennett mit einer Hintergrundgeschichte auszustatten. Diese Figur aus der Vergangenheit Nightwings als „Ric“ Grayson wieder ausgegraben zu haben, zählte ja nicht unbedingt zu den Stärken von Taylors Run, ihre Backstory als Spionin, die uns Moore im Annual präsentiert, erscheint jedoch gänzlich verzichtbar. Anstatt ihr Profil zu verleihen, wird sie als Tritte und Schläge verteilende Agentin leider zum völlig austauschbaren tough girl (davon gibt es im DC-Universum ja nicht gerade wenige…). Derartige Stolpersteine gehören bei der Lektüre lang andauernder Superheldenreihen aber dazu (insbesondere bei Gastautoren bzw. -zeichnern) und soll den Genuss dieses großartigen Comics in keiner Weise schmälern.
Ein Salto Mortale mit Punktlandung.
Nightwing 3 (Dawn of DC) Panini, 2025
Text: Tom Taylor, Travis Moore, Zeichnungen: Bruno Redondo, Sami Basri, Daniele di Nicuaolo u.a.
Übersetzung: Carolin Hidalgo
152 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-7416-4269-2
Nightwing 4 (Dawn of DC)Panini, 2025
Text: Tom Taylor, Zeichnungen: Bruno Redondo
Übersetzung: Carolin Hidalgo
136 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 18,00 Euro
ISBN: 978-3-7416-4541-9




