Der deutsche Sammelband der amerikanischen Serie Mister Miracle von 2017 beginnt mit einem Vorwort des Redakteurs Christian Endres, der kurz die Entstehung des von Jack Kirby geschaffenen „Fourth World“-Universums beschreibt. Es war der Versuch des Künstlers, eine eigene, originelle Mythologie zu erschaffen, ein klassischer Kampf zwischen Gut und Böse, symbolisiert durch die beiden Planeten New Genesis und Apokolips.
New Genesis wird vom edelmütigen Highfather beherrscht, Apokolips vom tyrannischen Darkseid, der plant, die gesamte Schöpfung zu unterwerfen. Es ist ein komplexer Mythos, aber dieser Band dreht sich nur um die Geschichte eines Mannes: Scott Free, der Sohn von Highfather, welcher, nachdem die beiden Herrscher ihre Söhne gegenseitig ausgetauscht hatten, auf Apokolips aufwuchs und grausamste Folter erdulden musste. Scott entkam dem Höllenloch, in dem er aufwuchs, fand seine große Liebe und wurde zu Mister Miracle, dem größten Entfesselungskünstler der Welt. Seine Geschichte ist eine Geschichte des Triumphs, die zeigt, dass man selbst die dunkelste Folter hinter sich lassen kann, um anderweitig ein gutes Leben aufzubauen. Eine kurze Sequenz zu Beginn des ersten Kapitels fasst diese Ereignisse in strahlenden Farben und überzogen optimistischen Bildern zusammen.
Wenige Seiten später versucht Scott Selbstmord zu begehen und es wird klar, in welche Richtung die Geschichte eigentlich gehen wird. Denn in dieser Welt scheint nur das Böse und der Schmerz wirklich zu sein. Nur Darkseid, Herrscher von Apokolips, ist real.
Mister Miracle: Darkseid ist erschien im Original als zwölfteilige Heftreihe, die an Klassiker wie Alan Moores und Dave Gibbons‘ Watchmen erinnert, als eine Dekonstruktion des klassischen Superhelden, gewürzt mit einer guten Dosis Pessimismus, Depression und Gewalt. Das bedeutet aber auch, dass die äußerere Handlung zweitrangig und der eigentliche Fokus auf der Figur Scott Frees, seinen Ängsten und Neurosen liegt. Es ist kein großes Geheimnis, dass etwas mit Scott nicht stimmt und dass die Realität der Geschichte noch unwirklicher ist, als sie es in Superheldengeschichten sowieso schon ist. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ist Scott ein Gefangener Darkseids, der seine Realität umschrieb, um den verhassten Sohn festzusetzen? Deliriert Mister Miracle nach seinem Selbstmordversuch nur vor sich hin oder ist die gesamte Serie nur ein böser Traum, nach dem Genuss eines schlechten Gemüsetellers? Spielt es eine Rolle? Nein, nicht wirklich, denn am Ende ist es die Analyse von Scotts Persönlichkeit, um die sich die Geschichte aufbaut.
Unser Protagonist ist ein traumatisierter, junger Mann, der immer noch von seiner schrecklichen Kindheit geprägt ist, dessen einzige Vaterfigur ein Tyrann und dessen Mutterfigur ein Monster war. Sein Bruder, der auf New Genesis aufgewachsene Orion, ist ein dämlicher Schläger, der es immer leichter hatte und ihn trotzdem als Weichei beschimpft. Scott versucht in der echten Welt voranzukommen, auch seiner Frau Barda zuliebe, aber die Depressionen und das Trauma sind stärker. Darkseid, das Symbol für Leid und Hass, ist stärker. Mister Miracle ist am Ende eine Geschichte über Leid und wie man dieses überwinden kann. Die Antwort von Autor Tom King und Zeichner Mitch Gerard scheint die Familie zu sein, auch wenn das wieder infrage gestellt wird. Denn selbst mit einer liebenden Familie bleibt das Leid. Ein großer Fokus liegt auch auf Scotts Auseinandersetzung mit der Frage, warum sein Vater ihn wegen eines Waffenstillstands austauschte und scheinbar nie einen Versuch wagte, ihn zu befreien. Was für ein Vater gibt sein Kind weg, um einen Staat zu retten, anstatt zu kämpfen? Ein herzloser Bastard, denkt sich Mister Miracle. Allerdings sind dies Gedanken, aus seiner Sicht geschildert. Das Leid, von dem wir erfahren, beschränkt sich also auf Scotts Perspektive, womit ein potentiell komplexer Sachverhalt sich auf die eine Person beschränkt, die am meisten vom Leid betroffen ist.
Aufgelockert wird die düstere Erzählung durch bizarre, humorige Einlagen, wenn zum Beispiel Scott und Barda das Lager des Feindes infiltrieren und die Soundeffekte durch einfache Worte wie „Schleich“ und „Kämpf“ ersetzt werden. Ein weiteres Highlight ist auch eine Gerichtsverhandlung in Scotts Wohnzimmer, die die eigentlich ernste Szene aufgrund des kleinen Raums ins Absurde verzerrt. Diese Szenen zeigen ebenfalls, dass Mister Miracles Realität wohl nicht die echte ist – so echt eine Realität eben sein kann, in der man unter der Woche arbeiten muss und am Wochenende am Krieg um das Schicksal des Universums teilnimmt.
Clever ist auch, wie King und Gerard Scotts Gefühl, gefangen zu sein, grafisch darstellen. Indem sie jede Seite (genau wie einst Watchmen) in neun Panels aufteilen, geben sie einen engen Rahmen vor, in dem sich der Held bewegen muss. Wenn dann auch noch viel darin passiert, vom Kampf auf Leben und Tod bis hin zu einer brutalen Befragung, muss sich das wohl auf Scotts Gemüt niederschlagen, denn in den Panels ist wenig Platz zum Atmen und es gibt selbst für den größten Entfesselungskünstler der Welt keinen Weg, zu entkommen. Das ist handwerklich super gemacht und wird auch von Kings Schreibe getragen, der trotz der Traumlogik der einzelnen Hefte immer wieder kleine Hinweise auf den wahren Hintergrund der Handlung und zukünftige Ereignisse streut. Leider ist es nicht die Logik, die in Darkseid ist den Ton angibt.
Denn Depressionen sind nun einmal Gefühle, rohe Emotionen, und die liefert die Serie beim ersten Lesen. Beim zweiten Mal sieht man noch, wie die kleinen Details zusammenpassen, aber die Gefühle flauen ab und man sieht Mister Miracle – Darkseid ist als das, was es ist: ein weiterer, düsterer Superheldencomic. Es ist eine Geschichte über Trauma und Leid in der Welt der grellen Kostüme und überzogenen Prügeleien, wie es sie seit Watchmen immer häufiger gab. Selbst der positive Hoffnungsschimmer am Ende wird schal, da Mister Miracle sein Ziel nicht durch Cleverness und improvisiertes Denken erreicht, sondern durch Gewalt. Familie hin oder her, seine Welt wird immer noch von brutalen Kämpfen geprägt, unabhängig davon, in welcher Welt er lebt. Egal was die Geschichte erzählt, er wird immer ein Gefangener sein, solange man mit düsteren Geschichten über Hass und Gewalt Geld verdienen kann, egal wie sehr ihm ein besseres Leben versprochen wird. Unter der wunderschön gezeichneten Fassade schimmert nur ein weiterer nihilistischer Comic über nichts, der handwerklich gut gemacht ist, aber am Ende doch nichts Neues zur Diskussion beiträgt, sobald die intensiven Emotionen des ersten Lesens abflauen. Dafür sind diese Gefühle dann aber auch sehr intensiv.
Am Ende ist wohl nur Darkseid wirklich real.
Handwerklich hervorragende, düstere Superheldengeschichte in der Tradition von Watchmen, die letztendlich von den Emotionen lebt, die Leser*innen beim ersten Mal durchleben, und dann abflaut.
Panini Comics, 2019
Text: Tom King
Zeichnungen: Mitch Gerard
Übersetzung: Josef Rother
300 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 30 Euro
ISBN: 978-3741612688
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