Eigentlich war Maggie Chascarillos Jugend eine einzige Tragödie: Nicht nur, dass sie miterleben musste, wie ihr Vater mit seiner Sekretärin fremdging, hinterher wurde sie auch noch von ihrer Mutter persönlich für das Auseinanderbrechen ihrer Ehe verantwortlich gemacht – weil sie’s weitererzählt hat. Nach der Scheidung wurde Maggie von ihrer Mutter, die ein weiteres Kind erwartete, verlassen, so dass sich ihre Tante Vicki Glori, eine Wrestlerin mit psychopathischen Tendenzen, ihrer annahm. Nebenbei entdeckte Maggie aber auch ihre Begabung, Autos zu reparieren und fand Anschluss in der örtlichen Punkszene. Sie verliebte sich in die durchgeknallte Hopey und beide wohnten fortan in lockerer Konstellation bei der deutlich älteren Izzy, die ebenfalls einige dunkle Punkte in ihrer Biografie hat.
Aber all das konnte ein Love and Rockets-Leser Mitte der 80er Jahre noch gar nicht wissen. Die frühen Hefte der ersten Love and Rockets-Serie, in der Maggie ihre ersten Auftritte hatte, klammerten die tragischen Aspekte der Story konsequent aus und konzentrierten sich auf Maggies Erlebnisse mit ihrer kleinen Gang. Es waren Geschichten, in denen Maggie noch nicht Autos, sondern vielmehr Raumschiffe und Roboter reparierte, und wenn sie Arbeitseinsätze außerhalb ihres Viertels, einem Vorort von L.A., hatte, konnte es durchaus zu Begegnungen mit Dinosauriern kommen. Mag sein, dass sich Jaime Hernandez in diesen frühen Stories noch nicht sicher war, was er eigentlich wirklich erzählen wollte und einfach so drauf los fabulierte; im Rückblick – und mit den tragischen Begleitumständen vor Augen – kann das wilde Geschehen aber, trotz einiger Logikbrüche, durchaus als Verdrängungsmechanismus gesehen werden, der es Maggie erst ermöglichte, eine unbeschwerte Jugend leben zu können. Aber das ist Interpretation und war in den frühen Episoden nicht offensichtlich.
Recht schnell, so um 1985, machte Jaime Hernandez Schluss mit SF, Raumschiffen und Robotern, trotzdem war die Welt von Hoppers, wie Maggies Viertel heißt, noch in Ordnung. Man machte sein Punk-Ding, Maggie lebte ihre lockere Beziehung mit Hopey und hatte Spaß mit der Jahrhundert-Schönheit Penny Century, die mit einem Millionär liiert war – bis Izzy sich ein Haus kaufte und Maggie und Hopey nicht mehr bei sich wohnen haben wollte. Das hatte zur Folge, dass Maggie zurück zu ihrer Tante zog, während Hopey mit einer befreundeten Punkband durchbrannte. Und hier endlich beginnt Der Tod von Speedy Ortiz, die Story, mit der der Reprodukt-Verlag vor 25 Jahren sein Programm startete und die jetzt neu aufgelegt wird.
Natürlich ist es bedauerlich, dass uns die frühen Maggie-Stories, genau wie vor 25 Jahren, vorenthalten bleiben, gleichzeitig muss man aber auch konstatieren, dass Der Tod von Speedy ein erzählerischer Höhepunkt der Serie ist. Von der Maggie-Hopey-Beziehung erfährt man immerhin in einigen aussagekräftigen Rückblenden, tatsächlich befinden wir uns bei Der Tod von Speedy aber bereits an einem Wendepunkt ihrer Beziehung. Aber während Maggie sich noch vor Liebeskummer verzehrt, tritt ein neues Love-Interest in Form des Künstlers Ray auf den Plan, was Maggies Leben nicht einfacher macht. Ray hat das Viertel schon vor Jahren verlassen, weil er die Perspektivlosigkeit und vor allem die latente Aggression unter den Jugendlichen dort nicht mehr ertragen wollte. Aber wie das Leben so spielt: Gerade, als Ray wieder zurückkehrt, um alte Freunde wiederzusehen, kommt es zum offenen Konflikt mit einer rivalisierenden Gang aus einem anderen Viertel – und ausgerechnet Maggies kleine Schwester Esther ist Auslöserin der Rivalität. Sie geht mit Izzys kleinem Bruder Speedy eine Beziehung ein, obwohl sie doch bereits einen Freund im verfeindeten Stadtteil hat. Maggie gerät schnell zwischen alle Stühle und muss Verantwortung in dieser explosiven Situation übernehmen.
Der Tod von Speedy ist eine spannende Love and Rockets-Episode, die sich auch ohne Vorkenntnisse gut liest. Jedoch, die Speedy-Story nimmt nur die erste Hälfte des Buches ein. Ab der zweiten Hälfte des Buchs, wenn es um die Erlebnisse von Hopey mit ihren Punk-Freunden geht, werden die losen Enden, die an frühere Episoden andocken, weitaus zahlreicher: Spätestens, wenn Penny Century auftritt, wird einem bewusst, wie sehr man ins kalte Wasser gestoßen wird. Man ist von der Fülle an Nebenfiguren teils schlicht überfordert – was nicht bedeutet, dass man sich nicht dennoch amüsieren kann. Früher war es das täglich Brot jeden Serienfreundes, sich in laufende Serien einzuarbeiten; und sind wir nicht gerade auch auf diese Weise von vielen Serien erst Fan geworden? Der Tod von Speedy ist eine echte Showcase-Ausgabe, in der Jaime Hernandez‘ Virtuosität in vielerlei Hinsicht zur Schau gestellt wird. Drama, Soap- und Comedy-Elemente finden sich gleichermaßen, doch bilden diese keine völlig geschlossene Einheit. Die Erzählung ist in nahezu jede Richtung verlängerbar. Vielleicht ist Love and Rockets ja auch wegen dieser Offenheit eine der besten und einflussreichsten amerikanischen Comicserien.
Das zweite, zeitgleich bei uns erscheinende Love and Rockets-Buch Liebe und Versagen ist im Gegensatz zu Der Tod von Speedy eine deutsche Premiere und zeigt, wie sich Jaime Hernandez über die letzten 20 Jahre hinweg weiterentwickelt hat. Mit Liebe und Versagen hat Reprodukt eine in mehrfacher Hinsicht kluge Wahl getroffen: Erstens handelt es sich bei diesem Band nun tatsächlich um eine vollendete und durchkomponierte Erzählung, zweitens kennt man alle für das Verständnis wichtigen Personen bereits aus Der Tod von Speedy. Anders als bei diesem frühen Band aus den 80ern hat man hier mit keinen Leerstellen mehr zu kämpfen, die auf Grund einer lückenhaften Editionsgeschichte auftreten. Spätestens im zweiten Buch kann man sich als Leser fallen lassen und von Jaime Hernadez durch einen weiteren Abschnitt von Maggies Leben führen lassen.
Kürzlich habe ich in einer ebenfalls aktuellen Rezension zu diesen beiden Love and Rockets-Büchern gelesen, die beiden Bücher seien wie Prolog und Epilog zu Maggies Leben, während die tatsächliche Erzählung hierzulande außen vor bleibt. Das sehe ich völlig anders. Erstens ist Maggies Leben mit 43 Jahren – dieses Alter hat sie in Liebe und Versagen – nicht vorüber, und zweitens findet das Leben, gerade bei Jaime Hernandez‘ Stories, immer im Augenblick statt, ohne Anspruch auf Geschlossenheit. Bei Love and Rockets hat es sich für mich als Leser bewährt, an irgendeiner Stelle einzutauchen und nachzusehen, was da momentan gerade los ist. Chronologisch zu lesen ist da gar nicht so wichtig, im Gegenteil läuft man beim chronologischen Lesen Gefahr, die Lust zu verlieren, bevor man die Höhepunkte der Serie erreicht. Und der Love and Rockets-Kosmos ist inzwischen so ausgefranst, dass auch Fans sich schwer damit tun, den Überblick zu behalten. Trotzdem will ich nicht aufhören, mir auch die frühen Love and Rockets-Stories in deutscher Sprache zu wünschen, zumal auch die Übersetzungen der beiden nun vorliegenden Bände keine Wünsche offen lassen.
Stimmiges, intelligent zusammengestelltes Gesamtpaket mit zwei erzählerischen Höhepunkten von Jaime Hernandez‘ Love and Rockets-Saga.
Reprodukt, 2016
Text und Zeichnungen: Jaime Hernandez
Übersetzung: Oliver Köll
136 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24 Euro
ISBN: 978-3956400704
Leseprobe
Reprodukt, 2016
Text und Zeichnungen: Jaime Hernandez
Übersetzung: Conny Lösch
112 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24 Euro
ISBN: 978-3956400698
Leseprobe
1 Kommentare