Largo Winch gelesen mit Bertolt Brecht: „Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?“ (Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper)
Am Anfang stehen ein kurioser Selbstmord und ein Erbe. Nerio Winch, Leiter der Gruppe W, das mächtigste und größte Firmenimperium des Planeten, hat einen Auftragsmörder gedungen, ihn von einem unheilbaren Gehirntumor zu erlösen. Alleiniger Erbe seines unwahrscheinlichen Vermögens: ein junger Jugoslawe namens Largo Winch. Die Gruppe W ist alles andere als begeistert, dass ihnen aus dem Nichts ein unbeschriebenes Blatt vor die Nase gesetzt wird. Und gleich werden die Messer gewetzt.
Largo Winch ist eine Figur, wie sie den Piratencomics des Jean-Michel Charlier entstammen könnte: Schon als Kind als Ziehsohn des größten Piraten bzw. Businessman seiner Zeit herangezogen, um irgendwann die verlogene Gesellschaft aufzumischen und vorzuführen, das ist fast wie beim Roten Korsar. Largo Winch erfuhr stets die beste Ausbildung, sowohl im Eliteinternat als auch durch Tycoon Nerio höchstpersönlich, zudem eine Zweitausbildung als Messerwerfer im Wanderzirkus. Mit allen Wassern gewaschen, doch moralisch integer, wird er schnell lernen müssen, mit den Haien zu schwimmen. Außerdem hat er vom ersten Tag an ein Komplott und ein Killerkommando am Hals.
Largo Winch ist eine Ausnahmeserie, wie sie wohl nur der Autor Jean van Hamme hat verfassen können, der selbst als studierter Finanzwissenschaftler einige Jahre im Marketing tätig war, bevor er aus Abenteuerlust den Beruf wechselte und Comicautor wurde. Aus seiner Feder stammen berühmte Serien Wie Thorgal, XIII, Hopfen und Malz sowie das Fantasy-Werk Die Große Macht des kleinen Schninkel. 1990 kam dann der erste Band der Reihe Largo Winch, die inzwischen auf über 20 Hefte angewachsen und seit kurzem sogar mit einer Spin-Off-Serie erweitert wurde.
Wie oft in Jean van Hammes Serien geschehen bisweilen spektakuläre und unfassbare Dinge in den Abenteuergeschichten um Largo Winch. Da ist es nur gut, dass die von Anfang an reißerische Actionstory durch einen viel größeren, dicht gewobenen Plot und Hintergrund zusammengehalten wird, dessen Komplexität zu durchschauen das eigentliche Vergnügen dieser Storys ist. Van Hamme gelingt es, Erwartungshaltungen geschickt zu unterlaufen. Die tatsächlich spannenden Momente sind nicht diejenigen, in denen ein Motorrad durch eine Glasscheibe bricht oder ein Auto explodiert, sondern wenn Largo Winch mit seinem Kugelschreiber einen Vertrag unterschreibt oder eine Überweisung tätigt. Die krachende Action, mit viel Dynamik von Künstler Francq äußerst effektvoll in Szene gesetzt, ist da fast schon Beiwerk. Und doch wird durch die Action die Erzählung erst rund.
Van Hamme und Francq tragen in ihrem spannenden Finanzwestern dick auf und platzieren wunderbare Gegensätze, aus denen die Story um Largo Winch nicht nur ihre Motivation, sondern auch eine ganze Menge Humor zieht. Auf der einen Seite stehen hier Largo Winch – Experte gleichermaßen für Messerwurf wie für Finanzen – und seine Kumpels, ein Schweizer Profi-Einbrecher und ein israelischer Pilot mit Killervisage, auf der anderen Seite die Anzugträger in den Bürokomplexen der Gruppe W. Alles Piraten, die ihre Säbel längst gegen Aktentaschen getauscht haben.
Largo Winch ist virtuos erzählt und zeigt Jean van Hamme auf der Höhe seiner Erzählkunst. Einfach wunderbar, wie Largo Winch in der dritten Folge der Reihe erst im Büro von einem Mitarbeiter des Finanzamts aufgefordert wird, 1.382.614.277 Dollar Erbschaftssteuer zu bezahlen (und 37 Cent) und ein paar Seiten später im Central Park auf Straßengangster stößt, die ihn um 200 Dollar erleichtern wollen. Ob Largo Winch seine moralische Integrität in dieser Welt bewahren wird? Auch aus dieser Frage bezieht die Serie ihre Spannung. Der Kapitalismus tötet bei Largo Winch jedenfalls erstaunlich häufig.
Die neue Ausgabe von Largo Winch macht alles richtig, denn im gewählten Überformat sind Francqs dynamische Zeichnungen großes Kino. Die Entscheidung, ausgewählte Panels für die Titelbilder zu verwenden, gefällt mir dabei gar nicht schlecht, denn durch die Vergrößerung entfalten Panels eine visuelle Kraft, die man im Lesefluss gerne übersieht. Natürlich ist es schade, wenn ausgewiesene Coverdesigns unverwendet bleiben. Da es sich aber um die bereits dritte Auswertung des Stoffs handelt, ist eine Neuausrichtung des Designs durchaus begrüßenswert.
Explosiver Finanzwestern
Schreiber und Leser, 2022
Text: Jean van Hamme
Zeichnungen: Philippe Francq
Übersetzung: Peter Daibenzeiher
je 116 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-3-96582-089-0
Leseprobe
Anmerkung: In einer früheren Version des Textes stand noch die Bemerkung „Ob Milliardäre, Finanzbeamte oder Straßengangster, die Gier macht eben alle gleich.“ Aber man sollte Finanzbeamte, die ihre Pflicht tun, besser nicht mit Gangstern und Finanzhaien gleichsetzen. Und Largo Winch soll verdammt noch mal seine Steuern zahlen. Wird Largo seine moralische Integrität bewahren können? Die Frage ist tatsächlich brisant. (CM)