Der Outlaw und sein Kind reiten in Richtung des kleinen Wüstenstädtchens, in dem ein steckbrieflich gesuchter Mörder Unterschlupf gefunden hat. Am Stadttor hängen drei Verbrecher als Warnung, denn der kaiserliche Stadtverwalter regiert dieses Provinznest mit eiserner Faust und willkürlichen Regeln. Im Grunde ein Zustand der Anarchie, wie ihn Alan Moore beschrieben hat, als er einmal sagte: „Wenn von Anarchie die Rede ist, dann sagen die meisten Menschen, dass sie das für eine schlechte Idee halten, denn Anarchie bedeutet, dass die größte Gang die Macht an sich reißt. Aber genau so sehe ich unsere Gesellschaft. Wir leben in sehr unterentwickelten anarchistischen Umständen, in der die größte Gang am Steuer sitzt und uns erzählt, dass dies keine Anarchie sei.“
Alles in dieser Szene atmet den Geist des Western all’Italiana der 1960er und -70er Jahre. Auch in Gestik und Habitus wirken die Figuren 1:1 dem Italo-Western entlehnt und es ist fast beruhigend zu lesen, dass der chinesische Künstler Xu Xianzhe den italienischen Western als maßgeblichen Einfluss auf seine Arbeit nennt, neben den Mafia-Filmen von Francis Ford Coppola, den Gangsterfilmen von Martin Scorsese und den japanischen Samurai-Filmen. Damit belebt der Künstler auch eine Beziehung neu, die seit jeher interessante Früchte einbrachte, denn wie einst Sergio Leone sich beim japanischen Samurai-Film Yojimbo die Inspiration für seinen stilprägenden Für eine Handvoll Dollar holte, importiert nun Xu Xianzhe die Motive des italienischen Western in die asiatische Heimat zurück. Natürlich ist China nicht Japan – und doch wird deutlich, wie diese offensichtlich universalen Motive in aller Welt bis heute Resonanz erzeugen.
Xu Xianzhe hat sich mit der Zeit um 607 nach Christus die richtige Epoche für seinen Fernost-Western ausgesucht. Es war eine Ära der Tyrannei und des Elends, in der viele Chinesen sich von ihrem Kaiser abwendeten. In einem solchen Setting hat die Figur des Outlaw einen besonderen Stellenwert, denn gerade dadurch, dass sie sich außerhalb der Gesellschaft bewegt, besitzt sie die Freiheit, den Zustand des Mangels zu überwinden. Entsprechend wird die Erzählung nach ihrem furiosen Western-Auftakt, der immerhin das komplette erste Buch einnimmt, zunehmend komplex und politisch.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erzählung den italienischen Western vollends abstreift: Auch der Italo-Western war nie so primitiv wie sein Ruf, sondern konnte durchaus politisch ambitionierte Fabeln erzählen. So wie zum Beispiel Sergio Corbucci in Leichen pflastern seinen Weg die Mechanismen des Raubtierkapitalismus offenlegt, oder in Lasst uns töten, Companeros bewaffneten Widerstand mit Gewaltlosigkeit kontrastiert. Oder wie Sergio Sollima in Von Angesicht zu Angesicht in einer Erzählanordnung aufzeichnet, wie ein bürgerlicher Lehrer im Wilden Westen zum Banditen wird, während gleichzeitig der Bandit in das Gewand des zivilisierten Bürgers schlüpft.
Diese Thesenhaftigkeit, die vielen italienischen Western innewohnt, mit der politische Positionen zugespitzt und kontrastiert werden, hat Xu Xianzhe in seine Serie einfließen lassen. Somit atmet Die Klingen der Wächter weit mehr den wahren Geist des Western all’Italiana als viele andere Filme und Comics, die zwar gerne dessen einzigartige Bildsprache imitieren, sich aber doch nur im Glanz der alten Großtaten sonnen und dabei inhaltlich wie stilistisch nur wenig Substanz liefern können. Xu Xianzhe dagegen liefert stilistisch wie inhaltlich und belebt das Genre auf erfrischende Weise neu.
Leser*innen, denen das Klischee des namenlosen Reiters zu abgedroschen scheint, dürfen daher durchaus einen Blick riskieren. Xu Xianzhe hat weit mehr zu bieten als die üblichen Erzählmuster und entwickelt eine Geschichte, die Aufmerksamkeit erfordert. Wäre dies nur der hundertste Aufguss des Diener zweier Herren-Szenarios, das seit Django und Für eine Handvoll Dollar mehr als totgeritten wurde, wäre diese Reihe kein international viel beachteter Bestseller und Exportschlager geworden.
Der wilde Westen ist ein Zustand, keine Epoche.
Chinabooks, 2020
Text und Zeichnungen: Xu Xianzhe
Übersetzung: Elisabeth Wolf
je Band 272 bis 280 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 14,90 Euro
ISBN: 978-3905816952
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