Die Wahrheit ist: die Welt war und ist und bleibt wohl für alle Zeiten undurchdringlich. Alle, die etwas anderes behaupten, lügen. Natürlich machen diese Lügen Spaß. Sie ermöglichen uns vermeintliche Strukturen zu erkennen (wo keine sind) und dem Ganzen so etwas wie einen Sinn abzugewinnen (wo keiner ist). Das fängt schon bei der Akademisierung von Wissen oder der Historisierung von Zeit an, aber es geht natürlich auch weitaus banaler. Zum Beispiel mit Shakespeare-Dramen. Oder, um post-modern zu bleiben, mit Superhelden-Comics und Popcorn-Blockbustern, sowie mit der gerade wuchernden Maximalisierung aus beiden, dem Superhelden-Blockbuster. Man maximiert darin nichts anderes als Lügen, und das bis zum Exzess. Es gibt da alles in Hochprozentig: gut, böse, Erkenntnis, Kampf, Sieg/Niederlage, und weitere statische, sich klar voneinander abgrenzende … Dinge. Diese lösen beim Zuschauen entweder maximalen Spaß aus oder führen, wie nach einem Überkopf-Schleuderspektakel auf dem Jahrmarkt, zum Erbrechen. Die Lügen, sie schmecken nicht immer.
Das hat natürlich nicht direkt etwas mit Enki Bilals vorliegendem Band zu tun, aber indirekt irgendwie schon. Nicht zu lügen würde ja bedeuten, anzuerkennen, dass der Kaiser nackt ist und wir keine Ahnung haben und nur so umhertreiben und dahinmorphen. Die Welt um uns ebenfalls. Es würde bedeuten, dass man der Neigung, Mensch, Ideen und Welt an endgültigen Idealformen zu messen, widersteht und anerkennt, dass alles im Dazwischen und im Übergang dahinfließt. Diese ständige Fluktuation an Bedeutung ist es, die dieser Comic gekonnt (und ganz und gar beabsichtigt) auslotet. Ein mutiges, verrücktes Unterfangen.
Die Handlung ist anfangs recht unübersichtlich. Da geht es dem Leser ähnlich wie Bilals Protagonisten, die auch nicht recht wissen, wie ihnen geschieht. Was sie aber nicht vom Handeln abhält. In drei Parallelsträngen begleitet man Überlebende in einem post-apokalyptischen Szenario. Ein Kollaps, eine Art Ökokatastrophe, man kennt das im Grunde. Frei nach dem Rezept „früher oder später fährt unsere Zivilisation in den Abgrund“. Und dieser spezielle Fall heißt bei Bilal „Blutsturz“. Kontinente haben sich verschoben. Die Physik hat aufgehört, unserem Verständnis zu gehorchen. Der Planet hat begonnen, ein Eigenleben zu entwickeln, sich gegen den Menschen zu wehren (typisch Mensch, dass man alles auf sich bezieht).
Zu Wasser, zu Luft und auf dem Land ziehen kleine Trupps von Überlebenden, deren Kern stets aus einem Hetero-Pärchen und einer dritten Person besteht, durch eine karge, unwirtliche Gegend. Sie sind auf der Suche nach Rettung oder einfach nur nach einer Unterkunft. Mann und Frau tragen stets unterschiedliche Namen, einmal aber auch Roem und Julia. Ein Hinweis. Die Liebe, sie hat irgendwie die Katastrophe überlebt, und sie ist auf der Flucht. Aber sie ist, wie der Shakespeare’sche Anklang vermuten lässt, zum Scheitern verurteilt. Dafür sorgt der Dritte im Bunde, ein Unruhefaktor, der die Zweisamkeit stört.
Wunderschön absurde Ideen schöpft Bilal aus diesem Szenario. Zum Beispiel gibt es Wolken, die tiefgründige Sätze von Philosophen und Romanciers enthalten, die man sich en passant und mit passendem Andockgerät direkt in seinen Kopf herunterladen kann. Sesam öffnet sich, auf dass etwas Sinn in ihn eindringt, den Menschenkopf, der, man hat es immer geahnt, eigentlich nichts anderes als ein organischer Lautsprecher fremdartig-autonomer Sinneinheiten ist. You’re just the ballroom, not the dancer.
Ein anderer Romeo ist in einen Delphin hineingeschlüpft, um „mehrmals 24 Stunden“ durch die eisigen Gewässer zu schwimmen. Ein Transportdelphin, oder ein Mensch-Tier-Hybrid? Egal, weil beides genial ist. Das kann Science-Fiction, wenn sie gut ist: zusammenbringen, was scheinbar keinen Sinn macht. Weil heute vieles Sinn macht, was früher vollkommen absurd erschien.
Die dritte Gruppe, und um die geht es im Kern in diesem Band, fliegt in einem kaputten Luftschiff umher. An Bord ist atomarer Müll. Wohin damit? Niemand weiß es. Deswegen fliegt man einfach weiter …
„Sprechen bringt wirklich nichts. Man muss zuhören.“ Wir werden uns irgendwann nach der Übersichtlichkeit und Gemütlichkeit, vor allem aber nach der Überzeugtheit zurücksehnen, derer wir gerade noch so gewiss sind. Die Zukunft nach Bilal beschreibt die Menschheit in einer Verkümmertheit, die sich nicht mehr verbergen lässt. Winzige Anhäufungen von Atomen, die an der Oberfläche eines Planeten entlang tingeln wie ein paar lästige Insekten. Was haben wir uns eigentlich eingebildet, wer wir sind?
„Das ist das Ziel, immer weiter voran. Auch wenn es nirgendwohin geht.“ Wir steuern nicht auf eine Katastrophe zu, denn die ist ja schon passiert. Wir steuern einfach mal gar nicht und was sich nach Katastrophe anfühlen wird für unsere Nachkommen, ist von einer höheren Warte betrachtet nichts anderes als eine Wellenbewegung im Abschwung, eine Farce, der wir zu viel Bedeutung beimessen. Vielleicht weil wir nicht anders können. Weil unsere Gehirne so programmiert sind und Informationen nicht nur aufnehmen, sondern — möglicherweise ein folgenreicher Fehler — in eine Feedbackschleife der Bedeutungszuordnung geraten. Weil man das Muster einer Wolke malen und ihre Dichte sowie chemische Zusammensetzung definieren kann, muss dies nicht heißen, dass man irgendwas über sie begriffen hat. Die Wolke. Sie steht für sich und bleibt Mysterium. Das ist natürlich nur schwer zu akzeptieren.
Bilals Farbpalette, zunächst beinah monchrom Blau (Tod?), hier und da ein Tupfer Rot (Leben?). Vielleicht hat er auf blauem Tonpapier gezeichnet? Die Struktur der Cellulose ist sichtbar. Sein Strich ist lose, ja, geradezu schlampig und zahlt einmal mehr auf die Prämisse ein: will nicht beeindrucken, ist deshalb umso eindringlicher und von einer merkwürdigen Klarheit. Im weiteren Verlauf wird die Farbpalette breiter, die Intensität lebendiger, aber ein „schöner Comic“ von Bilal ist das nicht, wenn man das mit Arbeiten wie seiner Nikopol-Reihe vergleicht. Der Schreibstil ist voller Zitate, launisch-ironisch, die Dialoge knackig und überraschend, manchmal sogar lustig. Gratulation an Resel Rebiersch für diese schöne Übersetzung.
Wenn Samuel Beckett noch leben würde, er hätte seine Freude an Die Farbe der Luft, da bin ich mir ziemlich sicher. Text und Grafik gehen eine perfekte Allianz ein. Jedes für sich genommen würde hinken, vielleicht prätentiös wirken, aber zusammen fliegen sie. Und die Reise macht Spaß. Am Ende kann Bilal der Versuchung nicht widerstehen, ein paar religiöse Motive (funktionieren immer) zu zitieren und die disparaten Erzählstränge doch zu einem honigsüßen Guss zusammenzuführen. Für mich hätte es das nicht gebraucht. Manch anderem wird es Belohnung fürs Durchhalten sein.
Ohne die zwei Vorgängeralben aus der Trilogie zu kennen (und mit einem großen Bedürfnis, diese nachzuholen) kann ich für Die Farbe der Luft nur eine Maximalempfehlung aussprechen. Ein einzigartiger Comic. Auch hier wird teilweise gelogen (bzw. erzählt), aber die Erzählung stellt sich in den Dienst der Veränderung, der Infragestellung. Es werden nicht bekannte Prozesse und Ideen ein weiteres mal bestätigt, sondern Schneisen aufgemacht, auf dass Neues in den Kopf des Lesers fließen kann. Maximal Neues. Es tut gut, gelegentlich daran erinnert zu werden: Das Einzige, dessen wir uns sicher sein können, ist, dass wir einem Prozess beigewohnt haben. „Aber warten wir bis morgen, vielleicht haben wir nur geträumt.“
Enki Bilal liefert einen weiteren Beweis dafür, dass manche Ideen unbedingt das Medium Comic brauchen, um größtmögliche Wirkmächtigkeit zu entfalten.
Egmont Comic Collection, 2015
Text & Zeichnungen: Enki Bilal
Übersetzung: Resel Rebiersch
104 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 24,99 Euro
ISBN: 978-3770437825
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