Zum 100. Geburtstag: Franquins Lieblingsgeschichte mit Spirou und Fantasio im Überformat, mit neuen Farben, Faksimile der Originalseiten und jeder Menge Anmerkungen.
Gaston schenkt Fantasio zum Geburtstag drei dressierte Schimpansen, und die stellen den Comicverlag, in dem beide arbeiten, ausgiebig auf den Kopf. Währenddessen bemerkt Spirou, dass sich ein seltsamer kleiner Mann für das Wohlergehen der Affen interessiert. Spirou enttarnt ihn als genialischen Dompteur unter anderem der Affen und sorgt dafür, dass Fantasio ihm seine ehemaligen Schützlinge schenkt. Das ist der ganze Inhalt der Geschichte über die Bravo- Brüder (die Affen reagieren aggressiv, wenn sie für ihre Kunststücke keinen Applaus erhalten), deren knapp zwanzig Seiten die einzigen waren, die der Meister selber unter seinen weit über tausend erfolgreichen und das Medium neu definierenden Seiten mit Spirou und Fantasio gelten ließ.
Ich erinnere mich gut an meine Enttäuschung, als ich diesen eigenen Lieblingscomic meines Lieblingszeichners endlich das erste Mal las: wo waren die Abenteuer, die Wunderwelten und die verrückten Twists? Selbst das Marsupilami taucht nur in einem (brillanten) Panel auf. Ja, auch der Wahnwitz späterer Gaston-Gags fehlt völlig. Stattdessen: Ein Gag nach dem anderen über Schimpansen, die sich als Cowboys verkleiden oder Schreibmaschinen gegen Schreibtische donnern. Sicher waren die Zeichnungen dynamisch, aber was sollte das alles? Die Zeit hat die Akzente allerdings deutlich verschoben: gute Abenteuercomics sind in den letzten Jahrzehnten einige entstanden, und Plottwists fallen mittlerweile von den Bäumen. Aber solche Zeichnungen gab es nie wieder.
Der vorliegende Band (er nennt sich selbst auf Deutsch eine „De Luxe“- Ausgabe, auf Französisch ist er schlicht „kommentiert“) bringt die „Bravo Brothers“ in neuer, deutlich sorgfältigerer Kolorierung (Farben: Jannin) und ebensolcher Übersetzung (Michael Hein) und im Anschluss und in Schwarzweiß Franquins reproduzierte Originalseiten, in deutlich feinerer Abtastung. Ja, es sind ein paar Bleistiftlinien und Tuscheschlieren zu sehen. Und die Gesamtwirkung ist gewaltig. Wer jemals eine Seite des Meisters in der Hand hielt (die gab es früher in Amsterdam und Paris in Comicläden zu kaufen! Zu Preisen, für die du heute keinen Spirou-Schuber kriegst! Und ich hatte das Geld als Schüler trotzdem nicht.) wird wissen, dass die üblichen Alben aus dieser Zeit die Dynamik, den Detailreichtum, die geradezu surreale Qualität von Franquins Genie nicht annähernd wiedergeben: da sind nur ein paar schwarze Striche auf weißem Karton, und es sind Welten, und sie leben und sie brechen aus der Seite heraus. Da bei uns bedauerlicherweise noch akribischer reproduzierte Liebhaberausgaben im Originalformat bisher nicht angedacht sind (auf Französisch sind die meisten von Franquins Spirous in solchen sündhaft teuren Sondereditionen erschienen), kommen diese „Bravo Brothers“ dem unverfälschten Franquin der 1960er so nahe wie keine andere deutschsprachige Veröffentlichung. Das ist vermutlich die Hauptattraktion dieses Bandes.
Jede dieser (unübersetzten) Seiten wird von einer Seite Kommentar begleitet, den die beiden Experten José- Louis Bocquet und Serge Honorez liefern. Ansonsten ist das Bonusmaterial so übersichtlich, als würde ein knickeriger Kellner den Trüffelhobel bedienen: eine Hand voll (sehr gelungener) neu hinzugefügter Zeichnungen ist angesichts der bekannten Menge an vorhandenem Material doch ein wenig mager. Die Anmerkungen der Experten sind durchweg lesbar und für den Fan faszinierend, aber erinnern bedauerlicherweise ein wenig an die Audiokommentare von DVDs, (falls sich an die noch jemand erinnert, der Band stammt im Original aus deren Hochphase): lose am Comic entlang wird mal etwas aus Franquins Leben erzählt, mal eine wiederkehrende Nebenfigur beiläufig charakterisiert, mal (und etwas zu selten) eine Bildfolge in ihren graphischen Mitteln und ihrem Aufbau analysiert. Interessant ist das immer, in die Tiefe geht es eher selten. Als Schwerpunkte kristallisieren sich Franquins lebenslange Liebe zu Tieren und das Interesse seiner hier häufig zitierten Tochter Isabelle an einer Würdigung ihres Vaters und speziell von Gaston heraus (wovon die Rechtsanwälte von Dupuis mittlerweile ein Lied singen können).
Und auf diese Weise öffnet der Text eben doch die Augen für die eben doch entscheidende Bedeutung dieser scheinbaren Nebenepisode: Die „Bravo Brothers“ sind die einzige längere Spirou-Geschichte seit den späten 1950er Jahren (und die letzte längere Geschichte von Franquin überhaupt), die Franquin tatsächlich vollständig alleine, ohne Hilfe von Szenaristen, Assistenten und Freunden gestaltet hat. Sie ist die letzte Arbeit des klassischen Franquin („Schnuller und Zyklostrahlen“ zwei Jahre später sieht bereits viel fusseliger aus), die mit ihrem überbordenden Tierslapstick immer wieder die Grenzen der Panels und seiner Talente als Zeichner und Autor auslotet. Anstatt dass wir in verlockende Welten hineingesogen werden, springen uns die Affen bei diesem nur auf den ersten Blick bühnenhaften Slapstick rahmensprengend entgegen. Auf den zweiten Blick werden wir mit ständigen Perspektivwechseln und allen Tricks der Dynamisierung des Bildes hin- und her getrieben (und das zum ersten Mal mit schwungvollen Pinselstrichen anstatt wie bisher in ziselierten Federzeichnungen). Das Marsupilami kann in dieser Geschichte nicht auftauchen, weil seine Aufgabe hier, in einem völlig anderen Erzählstil, die (konkurrenzlos ungerührten) Affen übernehmen: sie brechen die in dieser Geschichte besonders öde Normalität besonders brachial auf. Affen fahren Einrad und treiben Buchhalter, Geldmenschen und Polizisten in den Wahnsinn. Das ist nicht nur die Story der Geschichte, sondern auch, ganz im Gegensatz zu Franquins sonstigen vertrackten Subtexten, ihr ganzer tieferer Sinn. Der zunehmend depressive Zeichner träumt hier gleichzeitig so schmucklos und so virtuos wie nie von der plötzlichen Anarchie und deutet an, wie er den Rest seiner Karriere ausfüllen wird: mit nie endenden Gags gegen den alltäglichen Wahnsinn, mal makabrer, mal poetischer pointiert. Und diese Gags sind von nun an immer so verschwenderisch virtuos gezeichnet, als wolle er uns allen die Schönheit des hüpfenden und wuselnden Lebens demonstrieren. Viel zu spät und viel zu kurz, aber im Rahmen dieses Programms als folgerichtigen Höhepunkt entwirft Franquin gegen Ende auf der witzigsten Seite einen Zirkus der Träume, mit dem Tischtennis spielenden Elch, dem müllsammelnden Seehund und anderen interessiert beschäftigten Tieren (die Schlüsselfigur des hier eingeführten Tierpflegers Noah wird erst Jahrzehnte später wieder für Marsupilami-Bände und Specials aufgegriffen werden). Gerade mit ihrem täuschend unspektakulären Setting entpuppt sich die Geschichte tatsächlich als pointierteste Veranschaulichung von Franquins Sicht auf die Welt und die Comics. Und es ist ein Verdienst dieser wunderschönen Ausgabe, dies trotz verplauderter Begleittexte und karger Zugaben sehr viel deutlicher herauszustellen als bisherige Veröffentlichungen.
Wäre dieses edel gestaltete Buch die einzige Möglichkeit, die wilde Geschichte der Bravo-Brüder zu lesen und würden mich deren Erlebnisse nur ein winziges bisschen zweifelsfreier überzeugen, gäbe es die volle Punktzahl. Nun bleibt aber zu hoffen, dass vergleichbare Editionen nach und nach auch bei uns zur Normalität werden (da wartet zum Beispiel „Schlumpfissimus“ mit ausführlichen Erläuterungen zum politischen Gehalt). Darum hier der Aufruf: in Zukunft ein bisschen mehr, und dann davon viel, viel mehr, bitte!
Für Fans, aber die freuen sich sehr: schön gestaltete Neuausgabe eines klassischen Kleinods
Carlsen Comics, 2023
Text und Zeichnungen: André Franquin
Begleittext: José – Luis Bocquet und Serge Honorez
Farben: Frédéric Jannin
Übersetzung: Michael Hein
88 Seiten, Farbe und Schwarzweiß, Hardcover
Preis: 34,00 Euro
ISBN: 978-3-551-79840-4
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