Kinder sind cool. Sie haben keine Vorurteile und sprechen immer unverblümt aus, was sie denken. Das kriegt der alleinerziehende Yaichi in Gengoroh Tagames Mangaserie Der Mann meines Bruders reichlich zu spüren, als plötzlich Mike, der Ehemann seines verstorbenen Bruders Ryoji vor der Haustür seiner Wohnung steht. Der ist nach dem Tod des Partners eigens von Kanada nach Japan gereist, um Trauerarbeit zu leisten. Nach Ryojis Tod will er dessen Wurzeln kennenlernen und die Stätten besuchen, die Ryoji wichtig waren und ihn geprägt hatten. Yaichi jedoch fremdelt. Er hat sich seit dem Coming-Out des Bruders von diesem entfremdet und kaum noch an ihn gedacht, seit Ryoji nach Kanada ausgewandert ist. Bis jetzt.
Zu Yaichis persönlichem Glück jedoch bricht seine Tochter Kana schnell das Eis zwischen dem homosexuellen Mann mit der Bärenstatur und dem zurückhaltenden Vater. Das erste, was ihr zu verheirateten Männern einfällt ist die Frage, warum das in Japan nicht erlaubt sei; außerdem will sie Mike, diesen so völlig anderen Typen, unbedingt ihren Freundinnen zeigen. Da auch dem latent homophoben Yaichi kein stichhaltiges Argument dazu einfällt, weshalb Männer in Japan nicht heiraten dürfen, in Kanada jedoch schon, fängt er bald an, seine eigene Haltung zu hinterfragen. Ab diesem Zeitpunkt wird Yaichis Leben zum Eiertanz mit all den Fragen, was man von der Tochter besser fernhält und was man ihr getrost vermitteln darf. Nicht, dass das Kind solche Schutzmaßnahmen nötig hätte. Kana erschließt sich die Welt auf ihre eigene Weise.
Der Mann meines Bruders ist ein gutmütiger Comic mit menschenfreundlicher Message, der auf alle Seiten Rücksicht nimmt und auch den homophoben Yaichi nicht verteufelt. Deutlich wird das beispielsweise in einem Rückblick auf die Vergangenheit der beiden Brüder, als Ryoji sich gegenüber seinem Bruder outet. Zwar gibt sich Yaichi tolerant und ungerührt, und doch entsteht von diesem Zeitpunkt an ein Riss zwischen den beiden, wird doch durch das Outing nicht weniger als ein lebenslang gepflegtes Bild des Anderen eingerissen. Das ist keine Kleinigkeit, für beide Seiten nicht. Gerade deswegen ist die Rolle des Kindes als unvoreingenommene Vermittlerin so wichtig. Sympathisch ist am Comic aber auch, dass Kana manchmal etwas zu euphorisch in ihrer Begeisterung für den Brummbär ist und dann zu Recht von ihrem Vater gebremst werden muss. Manchmal ist eben durchaus auch Zurückhaltung der bessere Weg. Utopia wird nicht an einem Tag gebaut.
Von seiner Erzählhaltung her ist Der Mann meines Bruders ein aufklärender Comic, der einem jugendlichen Lesepublikum schwules Leben näherbringen möchte. Dabei erweist sich Gengoroh Tagame als sympathischer Erzähler, der in ruhigen Szenen auch Zwischentöne gut vermitteln kann. Seine homosexuelle Hauptfigur ist die typische bärtige Wuchtbrumme, ein idealisierter Männertyp, den man auch in seinen Hardcore-Arbeiten antrifft, wie sie hierzulande beim Bruno Gmünder-Verlag erschienen sind. Tagame ist es offensichtlich ein Anliegen, diesen Typ Mann nicht nur in pornografischen Arbeiten auftreten zu lassen, sondern auch zu zeigen, dass er außerhalb der Subkultur selbstverständlich alltagstauglich und gesellschaftsfähig ist. Nicht jugendfreie Gedanken haben wir schließlich alle. Was soll uns deshalb hindern, ein normales Leben frei von Diskriminierung führen zu dürfen?
Sympathisches Plädoyer für Akzeptanz
Carlsen Manga, 2019
Text und Zeichnungen: Gengoroh Tagame
Übersetzung: Sakura Ilgert
180 Seiten, schwarz-weiß mit vier Farbseiten, Softcover
Preis: 10,00 Euro
ISBN: 978-3551760128
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