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Depikto

Ein junger Künstler läuft durch ein Spiegellabyrinth. In einer besonders raffinierten Spiegelung sieht er sich selbst von hinten, dann dreht sich sein Spiegelbild um. Erst kommen nur aus den Augen des Spiegelbilds kleine spitze Tentakel, dann verwandelt sich sein ganzer Kopf in ein Tentakelmeer. Ein lovecraftischer Albtraum.

Beginn der Auflösung geordneter Panelstrukturen. Alle Abbildungen (c) Dantes Verlag.

Mit Depikto modernisiert der philippinische Künstler Ruvel Abril das Motiv des unheimlichen Kunstwerks, wie es unter anderem durch H. P. Lovecraft geprägt wurde. Pickmans Modell zählt hier sicher zu den berühmten Geschichten, sie ist unter anderem durch Benicio del Toro reizvoll variiert worden. Ein Einblick in Lovecrafts theoretische Schriften und Aufzeichnungen zeigt, wie wesentlich die Figur des getriebenen Malers und Künstlers zum lovecraftischen Motivschatz gehört:

In seiner „Aufstellung erster Einfälle, die denkbaren unheimlichen Geschichten als Motivation dienen können“, nennt Lovecraft unter anderem die

  • Verdinglichung von Produkten der Einbildungskraft,

In seiner „Aufstellung gewisser Grundformen des Grauens, die in unheimlicher Literatur wirkungsvolle Verwendung finden“, nennt er zusätzlich die grundliegenden Motive

  • Veränderungen auf einem Bild, die tatsächlichen Ereignissen – gegenwärtigen oder vergangenen – bei der dargestellten Szenerie entsprechen,
  • Traum und Wachwelt gehen ineinander über,
  • Ein Grauen aus der Vergangenheit (oder der Zukunft), knapp außerhalb der Erinnerung (oder der Vorahnung).

Depikto wirkt so, als hätte sich Ruvel Abril eben dieser Ideen bedient, um darauf seine Albtraumgeschichte eines Künstlers aufzubauen, dem die Realität abhanden geht. Mit Cthulhu hat das ganze dankenswerterweise wenig zu tun, mit kosmischem Grauen indes durchaus viel, wenn man seinen eigenen Sinnen und seinem eigenen Zeitgefühl nicht mehr vertrauen kann. Die Motivik von Lovecraft war schon immer dann am stärksten, wenn sie psychologisch gedeutet werden kann.

Pictures of an Exhibition.

Ruvel Abrils Comic beginnt damit, dass der Künstler Paco, dessen Frau gerade ihr erstes Kind erwartet, zu einer Vernissage seiner eigenen Bilder eingeladen wird. Es sind Bilder, von deren Existenz er nicht mal wusste. Paco nimmt die Konfrontation mit dem Unbekannten auf und beginnt, durch die Galerie zu schlendern, aber bald wird er von den starken Gefühlen, die diese Bilder auslösen, eingesaugt, die Grenze zwischen Vision und Realität verwischt; längst Verdrängtes meldet sich zurück.

Pacos Reise entwickelt sich sowohl durch abwechslungsreiche Layouts als auch durch Farbgebung zum visuellen Rausch und bald fühlt man beim Lesen noch an einen weiteren Großen der Comic-Kunst erinnert, an Marc-Antoine de Mathieu, der es auf ähnliche Weise versteht, die Mittel des Comics untrennbar mit der Erzählung zu verknüpfen. Auch Ruvel Abril weiß, wo die Stärken der Gattung liegen: Gerade die vielfältigen Variationen von Panelgrößen, die Vielfalt der grafischen Layouts und die Farbwechsel strukturieren die Geschichte und liefern einen kraftvollen Beweis dafür, weshalb Comic nach wie vor eine relevante Erzählform ist.

„Depikto“, das Wort leitet sich aus dem englischen „to depict“ ab, was für „darstellen, zeigen, verbildlichen, abmalen“ steht. In Tagalog, der philippinischen Landessprache, bedeutet „depikto“ dagegen „defekt“ und „fehlerhaft“. Man kann wohl davon ausgehen, dass Ruvel Abril sich der Doppelbedeutung des Worts bewusst war. Er hat daraus eine vielschichtige Mystery-Story gebastelt, deren Surrealität aber weniger selbstzweckhaft ist als es bei Mathieus Richtung beispielsweise der Fall war. Wie in einer Episode der italienischen Mystery-Serie Dylan Dog ordnet sich das Chaos einer übergeordneten Bedeutung unter; ein Rest Geheimnis bleibt dennoch zurück. So ist das eben.

Lovecraftischer Horror ist ein Gemütszustand

9von10Depikto
Dantes Verlag, 2025
Text und Zeichnungen: Ruvel Abril
Übersetzung: Jens R. Nielsen
160 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 22 Euro
ISBN: 978-3689020118
Leseprobe

Alle Lovecraft-Zitate im Text aus: H.P. Lovecraft: Azathoth, Suhrkamp 1989.

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