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Cheese

„Cheese“ von der italienischen Comickünstlerin Zuzu ist alles andere als cheesy.

Alle Abbildungen © Edition Moderne

Als „cheesy“ bezeichnet man abschätzig etwas, das einem auf den ersten Blick gut bekommt, obwohl wenig dahinter steckt. Jede*r kennt den Trick von mittelmäßigen Aufläufen, die man durch Kiloweise Reibekäse zu retten versucht. Cheese ist ganz, ganz anders.

Es geht um die Jugendlichen Dario, Riccardo und Zuzu, die sich mit ihren altersgemäßen Identitätsproblemen durch den Alltag kämpfen. Ihre Endgegner sind der eigene Körper, die eigene Zukunft und die eigene Sexualität. Mögen sie einander auch große Selbstsicherheit vortäuschen, nagen die großen Fragen gleichermaßen an den Dreien: Wer bin ich? Wer soll ich werden? Wer liebt mich? Das nagt an ihnen wie die Maus am Käse.

Riccardo, Zuzu und Dario können ihren grotesken Körpern nicht entkommen.

Sie treffen sich im Kino, am Ufer, in der Kneipe, also an durchweg gewöhnlichen Orten, um ganz gewöhnliche Gespräche zu führen. Abgesehen von Brentonico. Das ist ein italienischer Ort im Trentino, nahe des Gardasees, aber in Cheese ist er unfassbar entrückt – Lichtjahre entfernt von dem kitschigen Urlaubsklischee, das man wirklich als „cheesy“ bezeichnen kann. In Brentonico findet seit 2003 ein Cheese Rolling Contest statt, an dem vor allem Dario unbedingt teilnehmen möchte. „Fallen“ ist das Leitmotiv des Comics: sich fallen lassen. Oder stürzen. Und am Ende laufen alle einem Käse hinterher, der einen steilen Abhang hinunterrollt. True Story, denn diesen Cheese Rolling Contest gibt es tatsächlich.

Cheese Rolling Contests – viel zu verrückt, um erfunden zu sein.

Bei einem Cheese Rolling Contest versammeln sich junge, waghalsige Menschen am oberen Ende eines Grashanges, um in Form eines Wettlaufs einem Rundkäse hinterherzujagen, der den Abhang in einem Wahnsinnstempo hinunterrollt, -springt und -stürzt. Nicht weniger unkontrolliert taumeln, rollen und tanzen die Menschen ihm hinterher. Manchmal auf den Füßen, häufiger noch auf dem Hintern oder im Purzelbaummodus. Den Käse, der angeblich bis zu 110 km/h erreicht, hat noch nie jemand eingeholt, aber darum geht es bei dem Wettbewerb, der aus England stammt und dort noch viel spektakulärer durchgeführt wird als in Brentanico, auch gar nicht.

Spektakulär an Cheese ist sein Umgang mit Körpern. Klaus Theweleit untersuchte einst die faschistischen Körperpanzer als militaristisches Männlichkeitsideal – von solchen Panzern ist hier nichts zu sehen. Zuzu ist schonungslos in der Deformierung sämtlicher Anatomie. Schultern, Köpfe, Arme und Beine erstrecken sich quer über die Panels, als hätten sie die Orientierung verloren. Von Nasen wollen wir gar nicht sprechen.

Zuzu ist unzufrieden mit ihrem Körper – ein Stück von ihr geht dabei verloren.

Der Mensch ist nicht gut oder böse. Der Mensch ist hässlich, vor allem in der Pubertät. Dario hadert mit seinem Körper, und Zuzus Körper wird immer wieder grafischen Gewaltexzessen ausgesetzt. Wohl zu fühlen scheint sich in diesen Körpern niemand. Damit grenzen die drei sich von einer Jugendkultur ab, deren ästhetischer und ideologischer Fluchtpunkt die glatte Oberfläche von Instagram ist. Interpretiert man den Insta-Fetisch als ästhetisches Spiegelbild einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, dann könnten die drei sich nicht besser dagegen zur Wehr setzen, als sich dem Cheese Rolling Contest auszusetzen. Denn der Käse gewinnt immer.

In diesem Wettbewerb geht es eben nicht (bzw. nicht wirklich) um den Sieg, sondern um Haltungsfragen im Angesicht des Scheiterns. Dass Zuzu ihre gleichnamige Hauptfigur ausgerechnet im Laufe dieses Rennens zu sich kommen lässt, ist kein Zufall: „Zuzu! Man sieht deine Augen!“ Aber nicht etwa in dem Moment, als sie die Ziellinie erreicht, sondern als sie am Boden liegt.

2019 ist Cheese als Debüt bei Coconino erschienen, dem italienischen Hausverlag Gipis, der für Zuzu (d.i. Giulia Spagnulo) als Mentor fungiert. Gewisse Ähnlichkeit hat die Erzählung auch zu Antonio Totas Fratelli (ebenfalls Coconino), in dem auch der Alltag italienischer Jugendlicher im Mittelpunkt steht.

Zuzus Zeichnungen sind alles – nur nicht schön. Die überzeichneten Krakelfiguren mit den absurden Proportionen sind weit von klassischen Schönheitsidealen entfernt. Es ist schade, dass ausgerechnet die Passagen, die das Käserennen schildern (dynamischer, wilder und ungebremster könnte ein Event kaum sein), nicht einfangen können, was Videos der realen Veranstaltungen durchaus vermitteln können.

Zuzu ist mit Cheese ein Comic über Jugendliche auf ihrer Suche gelungen, der seinen Leser*innen Geduld ein wenig ästhetische Resilienz abverlangt. Als Belohnung winkt eine konsequente Erzählung in ungewöhnlichen Bildern.

Alles andere als cheesy

8von10Cheese
Edition Moderne, 2021
Text und Zeichnungen: Zuzu
Übersetzung: Ariana Pradal und Luigi Olivadoti
264 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 28,00 Euro
ISBN: 978-3-03731-213-1
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