Wenn das alte Jahr vorbei ist, schauen wir traditionell zurück auf die besten Comics, die wir im vergangenen Jahr gelesen haben. Die Comicgate-Autoren haben wieder ihre ganz persönlichen Listen mit ihren Lieblingscomics des letzten Jahres zusammengestellt. Hier sind unsere Topcomics 2014 – mal mit, mal ohne Ranking.
Unsere Topcomics der Vorjahre: 2009, 2010, 2011, 2012 und 2013.
DIE TOP 5 VON BENJAMIN VOGT
Gung Ho 1 – Schwarze Schafe
von Benjamin von Eckartsberg und Thomas von Kummant
Cross Cult
Der Beginn einer langfristig angelegten Postapokalypse-Saga vom deutschen Kreativduo von Eckartsberg/von Kummant. Die Erzählung rund um die menschliche Zivilisation nach dem Auftreten der sog. Weißen Plage in Europa ist im ersten Album noch etwas gemächlich (mit gelegentlichen Schockmomenten), zeugt jedoch bereits von großem Potenzial. Grafisch aufwändig und mit einer präzise durchgestylten Welt, ist Gung Ho ein vielversprechender Neustart, den man nicht verpassen sollte.
Jim Henson’s Tale of Sand
von Ramón K. Pérez
Dani Books
Die Adaption eines jahrzehntealten Drehbuchs von Jim Henson und Jerry Juhl ist im Ergebnis ein wunderschönes Meisterwerk. Ramón K. Pérez fabuliert fast ohne Worte über einen verlorenen Mann, der durch die Wüste irrt. Ein rauschhafter, surrealer Trip voll grafischer Finesse und tollen Farben. Nicht nur wegen seiner Entstehungsgeschichte ist dieses Comicwerk eines der unkonventionellsten der jüngeren Vergangenheit. Eine späte Hommage an Henson und Juhl, ein nie realisierter Kinofilm, der als Comicversion vielleicht am allerbesten funktioniert.
Hawkeye Megaband 1
von Matt Fraction, David Aja, Javier Pulido, Steve Lieber
Panini Comics
Bogenschütze zum Ersten: Die Serie hat es mit ihrer US-Version bereits in unsere Liste der Topcomics 2013 geschafft. Jetzt liegen die ersten elf Ausgaben auch auf Deutsch in einem dicken Megaband vor. Die Soloreihe des Avengers Hawkeye, kongenial von Fraction und (insbesondere) David Aja in Szene gesetzt, fällt gegenüber dem Superhelden-Einheitsbreis gehörig aus dem Rahmen. Hier werden Genrekonventionen gebrochen und grafische Verspieltheiten zelebriert. Ein Must-Have, selbst für Leser, die längst ermüdet den Superheldencomics abgeschworen haben.
Green Arrow Megaband 2
von Jeff Lemire und Andrea Sorrentino
Panini Comics
Bogenschütze zum Zweiten: Kurioserweise schafft es das DC-Gegenstück zu Marvels Pfeil schießendem Helden Hawkeye, der grüne Bogenschütze Green Arrow, mit seiner aktuellen Interpretation ebenfalls in meine Bestenliste. Das liegt wohlgemerkt nicht daran, dass ich ein Faible für die vergleichsweise schlichte Waffe habe, sondern dass Erfolgsautor Jeff Lemire eine klug strukturierte Erzählung vorlegt (Megaband 1 muss man vorher nicht gelesen haben), die sowohl Arrows menschliche Identität Oliver Queen emotional miteinbezieht als auch an dessen Origin gehörig rüttelt. Sorrentinos düsterer Stil bewegt sich auf einem konstant hohen Niveau und kann ebenfalls mit einigen kreativen Ideen aufwarten. Vielleicht bieten geerdete Helden wie Hawkeye und Green Arrow aus der vermeintlich zweiten Reihe aber für kluge Köpfe wie Fraction und Lemire aber einfach auch mehr Raum, eine eigene Vorstellung umzusetzen.
Southern Bastards Vol. 1: Here Was A Man (US)
von Jason Aaron und Jason LaTour
Image Comics
Auch im vergangenen Jahr gab es bei Image viele gute neue Serien, die nennenswert wären. Hervorzuheben ist sicherlich die neue Reihe von Jason Aaron. Dieser hat bereits durch seinen hervorragenden Comic Scalped gezeigt, wie gut er als Autor sein kann, wenn er abseits der Superhelden an seinem eigenen Stoff werkeln darf. Die Story handelt von Earl Tubb, der nach 40 Jahren in sein Heimatstädtchen in Alabama zurückkehrt. Dort zieht mittlerweile ein krimineller Footballcoach die Fäden und nimmt den gesamten Ort in Geißelhaft. Tubb muss sich entscheiden, ob er es im Alleingang mit dem Boss aufnehmen will oder sich lieber raushält.
Southern Bastards ist eine packende, emotionale Serie vor authentischer Südstaatenkulisse mit tollen Figuren und Dialogen. Ein starke Dramaserie, auf deren Fortsetzung man einfach hinfiebern muss.
★
DIE TOP 5 VON CHRISTIAN MUSCHWECK
Platz 5: Sin Titulo
von Cameron Stewart
Panini Verlag
Von wegen Magischer Realismus. Die postmodernen Mätzchen, die in Sin Titulo so prall inszeniert werden, waren schon bei David Lynchs Film Lost Highway 1997 nicht mehr taufrisch, nur dass es mir damals noch nicht aufgefallen ist – ich war halt noch jung. Die Art und Weise, wie Cameron Stewart diesen metafiktionalen Mindfuck inszeniert, ist indes über jeden Zweifel erhaben: Im eleganten Stil der klassischen Zeitungsstrips, jeweils mit einem kleinen Cliffhanger am Ende jeder Seite, gelingt Mr Stewart eine verrückte Wendung nach der anderen, ohne jemals zu langweilen. So müssen moderne Comics aussehen. Und auch wenn ich nicht mit jeder Wendung einverstanden bin, ist Sin Titulo doch ein außerordentlich fesselndes Lesevergnügen.
Platz 4: Die Stadt, in der es mich nicht gibt
von Kei Sanbe
Tokyopop
Wenn in Satorus Umgebung ein Unglück geschieht, gerät er in eine Zeitschleife, einen sogenannten Rerun, der ihm ermöglicht, das Unheil zu verhindern. Vielleicht hilft ihm das, eine Mordserie aus seiner Kindheit aufzuklären.
Zugegeben, dieses Genre mit der Zeitschleife, auch Murmeltier-Genre genannt, ist nicht ganz neu. In dieser neuen Mangaserie wird diese Plot-Motivation jedoch außerordentlich stimmig inszeniert: Jedesmal, wenn die Hauptfigur ein Déja Vu erlebt, überträgt sich die Beklemmung auf den Leser und alle Sinne fühlen sich an, als wären sie auf Anschlag aufgedreht. Ich habe lange keinen Comic mehr gelesen, der eine solche Sogwirkung entfaltet.
Platz 3: Irmina
von Barbara Yelin
Reprodukt
Montag, der 29.12.2014: Heute habe ich im Radio eine Sendung gehört über jüdische Flüchtlingskinder, denen nach der Reichspogromnacht in England von Privatpersonen Unterkunft gewährt wurde. Habe mich danach gefragt, weshalb mich das Schicksal dieser jungen deutschen Gans Irmina interessieren sollte. Auch Irmina würde 1938 gerne in England wohnen, muss ihr Zimmer aber einer jüdischen Emigrantin zur Verfügung stellen. Sie kehrt daraufhin nach Deutschland zurück und entwickelt sich vom hoffnungsvollen Mädchen, dem die Welt offen steht, zur deutschen Hausfrau, die dem Nazi-Ehemann den Rücken freihält. Nein, den Rest des Tages konnte ich Irmina nicht mehr leiden. Aber irgendwann beschlich mich das Gefühl, dass mir von dem Comic ein Spiegel vorgehalten wird. Könnte es sein, dass auch wir mit Scheuklappen durch die Gegend laufen und überhaupt nicht begreifen, was um uns passiert? Und was richtet es mit uns an, wenn wir uns mit Figuren wie Irmina, die durchaus Sympathieträgerin ist, identifizieren? Interessante Fragen, die uns Barbra Yelin mit auf den Weg gibt. Außerdem sind die Zeichnungen, die Aufmachung und sogar das Lettering hervorragend.
Platz 2: Kinderland
von Mawil
Reprodukt
Neben dem Zweiter-Weltkrieg-Comic Irmina ist mit Kinderland auch der unverwüstbare Genre-Dinosaurier DDR auf meiner Liste. Und obwohl beide dieser deutschen Comics richtige Ziegelsteine sind, könnte die Darstellungsweise unterschiedlicher nicht sein. Während Barbara Yelin in Irmina die allumfassende globale Sicht wählt und moralische Positionen teils geschickt versteckt, teils deutlich herausarbeitet, lässt uns Mawil die Welt der späten DDR ausschließlich aus Kinderaugen nacherleben. Bei Mawil werden die großen historischen Ereignisse zur lästigen Marginalie, dagegen sind das Tischtennisturnier im Pausenhof und der diplomatische Umgang mit den Schulrowdys Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Klingt nach Jugendbuch, und unterm Strich ist es das auch – was immerhin beweisen sollte, dass auch jenseits von Dark Fantasy und Dystopien noch All-Ages-Literatur möglich ist. Die Erzählfreude, mit der Mawil auch kleine Details in den Vordergrund holt, ist schwer zu toppen.
Platz 1: Dieter Lumpen Gesamtausgabe
von Jorge Zentner und Ruben Pellejero
Finix Comics
Dieter Lumpen ist der einsame Held mit unklarer Vergangenheit, ein Weltenbummler, dessen einziger Daseinszweck es ist, ein Abenteuer nach dem anderen zu erleben. Damit steht er ganz in der Tradition von Figuren wie Robert E. Howards Conan oder Hugo Pratts Corto Maltese. Hier gibt es keine komplizierten Überplots und Handlungsstränge, sondern einzig eine grob definierte exotische Welt, eine Situation und los geht’s. Das ist archaische und ziemlich intelligente Pulp Fiction, die heutzutage Seltenheitswert hat und unter Artenschutz gestellt gehört. Die Stories sind dann auch weitgehend unabhängig voneinander, manchmal aber auch lose ineinander verwoben. In die Welt von Dieter Lumpen mag man sich stundenlang hineinversetzen – und im Gegensatz zum artverwandten Corto Maltese, der doch eher spröde erzählt ist, kommt bei Dieter Lumpen der Spaß nie zu kurz.
★
DIE TOP 5 VON STEFAN SVIK
Platz 5: Bella Star trifft Kala
von Levin Kurio und Roman Turowski
Weissblech Comics
Es ist ein guter Weissblech Comic, der durch das Hardcover gefühlt noch besser wird. Wahrscheinlich liegt die Begeisterung aber eher daran, dass man diese Figuren über die Jahre liebgewonnen hat und die enorme Produktivität und Kreativität von Weissblech Comics geradezu berauscht!
Platz 4: Batman – Jahr Null (in: Batman, Hefte 26-34)
von Scott Snyder und Greg Capullo
Panini Comics
75 Jahre Batman-Comics, und doch wirkt dieser Comic über die Anfänge von Bruce Wayne als Batman frisch, spannend und voller Energie. Wir erleben die Entstehung des Riddlers und jede Seite ist ein Fest für Freunde des Flattermanns.
Platz 3: Süße Versuchung
von Jim und Grelin
Splitter
Ein sexy, wahrer, pessimistischer Blick auf den Konflikt von Liebe und Lust. Ein junges Mädchen will einen 40-jährigen Familienvater seiner Ehefrau ausspannen, um 20 Jahre mühsame Arbeit zu Wohlstand und vermeintlichem Glück abzukürzen. Für mich der beste Film 2014 – und ich brauchte dafür nicht mal ins Kino zu gehen.
Platz 2: Schattenspringer
von Daniela Schreiter
Panini Comics
Daniela Schreiter schildert ihre Kindheit als Asperger-Autistin, das gelingt ihr mit einer fein ausbalancierten Mischung aus Witz und Traurigkeit. Damals war ihr oft zum Heulen zu Mute, erst mit dem Abstand von heute könne sie über manches lachen, sagte sie mir. Ein kluger, tröstlicher Comic über das Anderssein, der 2015 fortgesetzt wird.
Platz 1: Kinderland
von Mawil
Reprodukt
Tagesspiegel, Rolling Stone, Stern – wohin man 2014 auch schaute, offenbar mochten alle Mawils Tischtennissaga. Und das völlig zu Recht! Die Geschichte ist spannend, lustig, berührend, klug. Lediglich die Preisgestaltung des Comics ist etwas abschreckend, aber es lohnt sich!
★
DIE TOP 5 VON CRISTIAN STRAUB
Beautiful Darkness (US)
von Fabien Fehlmann und Kerascoët
Drawn & Quarterly
Bereits im gleichen Jahr wie das französische Original erschien 2009 die deutsche Ausgabe von Fabien Vehlmanns und Kerascoëts Jolies Ténebrès bei Reprodukt (Jenseits). Wer (wie ich) den Comic damals verpasst hat, Drawn & Quarterly hat nachgezogen und die Novelle endlich auf Englisch veröffentlicht. Und der Kauf lohnt. Die Prämise hält einem sehr erfolgreichen Thema der letzten Jahrzehnte den Spiegel vor: Der Trick, fiktive Figuren aus der Sagen-und Märchenwelt in „unserer Wirklichkeit“ zu verorten und die archaische Wucht alter Mythen auf unsere aufgeklärte Gegenwart loszulassen, ist mittlerweile einigermaßen aufgebraucht. Sandman war nicht die erste aber die erfolgreichste Spielart, Gaiman ist aus dieser Falle auch nie wieder rausgekommen. Raffiniert drehen Vehlmann und Kerascoët den Spieß um. Diesmal sind es die die kleinen Elfenwesen, aus deren Perspektive wir in eine noch exotischere Welt als die der Märchen eintauchen. Eine, in der Überleben alles bedeutet, der Tod nach Verwesung stinkt und jede menschliche Erscheinung Misstrauen weckt. Unsere gern verklärte „authentische Naturwelt“ wird als Hort der Grausamkeit gezeigt, in der sich unsere Miniwesen irgendwie zurechtfinden müssen. Ein kurzer, aber intensiver und großartig illustrierter Lesegenuss.
Alex + Ada Vol. 1 (US)
von Jonathan Luna und Sarah Vaughn
Image Comics
Wie werden in Zukunft menschliche und künstliche Intelligenz miteinander umgehen? Ist Sympathie, ja sogar Liebe möglich? Alex, ein junger Mann, der noch unter der Trennung von seiner Ex leidet, beginnt, zunächst eher widerwillig, eine “Beziehung” zu einem neu auf dem Markt lancierten, weiblichen High-End-Androiden.
Der Comic wirkt grafisch sowie vom Erzähltempo und der Atmosphäre her eher europäisch. Dabei kommt es aus der ur-amerikanischen Zombie- und SF-Schmiede Image Comics. So sehr ich die Releasewut neuer Ideen und Konzepte abseits des ausgelutschten Superheldengenres schätze, so sehr muss ich leider auch konstatieren: Viel mehr als flüchtige Genre-Unterhaltung ist bisher bei “New Image” nicht rausgekommen. Nach Brandon Grahams Prophet ist Alex + Ada erst die zweite Reihe der neuen Image-Ära, die sich über reine Unterhaltung erhebt. Ein Comic, der sein Thema ernst nimmt und dem es nicht mal in zweiter Linie darum geht, besonders clever und laut zu sein. In einem reduzierten Erzähltempo und mit einem beinahe zärtlichen Blick auf seine Protagonisten schaffen Luna und Vaughn Raum für Reflektion, Empathie und Phantasie im Kopf des Lesers. Sehr gelungener Auftakt, der zweite Band erscheint im März 2015.
The Planetary Omnibus (US)
von Warren Ellis und John Cassaday
DC Comics
Zwar begann die in diesem Omnibus-Band zusammengefasste Serie bereits vor gut 15 Jahren, aber auch wer die Hefte besitzt, sollte sich die Gelegenheit, John Cassadys Artwork in Überformat sowie Warren Ellis‘ Meta-Epos aus einem Guss zu lesen, auf keinen Fall entgehen lassen. In einem Jahr, in dem ich ungewöhnlich viel Moore, Morrison und eben Ellis nachgeholt und wiedergelesen habe, kam ich nicht umhin, einige Parallelen zwischen den großen Erneuerern und Meistern des englischsprachigen Genrecomics festzustellen. Hinter Arbeiten wie Watchmen, Promethea, Invisibles, Animal Man oder eben Planetary steckt der gleiche postmodern-ironische, antiautoritäre Geist, der den Mythos zwar dekonstruiert, der Faszination seiner Allmacht aber letztlich erliegt und sie bestätigt. Also: ja, wir sind hier in einer Art Superheldencomic, der sich zwar von Superhelden distanziert und das „Phänomen untersucht“, dabei insgeheim doch wieder genau die reaktionären Machtphantasien liefert, die uns an das Genre binden. Was ich überhaupt nicht verwerflich finde, wollte es nur konstatieren. Andere Motive sind die Durchlässigkeit zwischen Fiktion und Wirklichkeit, sowie die Tendenz der Autoren, sich direkt oder per Stellvertreter in ihre eigene Fiktion hineinzuschreiben.
Aber Planetary kann mehr. Es ist nicht nur ein Kommentar auf fiktionale Comic-Universen, sondern verwebt 100 Jahre Popkultur so geschickt in seine actiongeladene, treibende Geschichte, dass dagegen sogar ein Watchmen in seiner Selbstreferentialität und seinem zynischen Ernst etwas angestaubt und humorlos wirkt. Als Blockbuster-Film zu verschroben, als TV-Serie zu teuer — Werke wie Planetary zeigen, dass der Comic als Medium für bestimmte Geschichten und Ideen unablässig ist. Sieger 2014 in der Kategorie Unterhaltung.
Hier
von Richard McGuire
Dumont Buchverlag
Zum Thema Comic und was es als als Medium einzigartig macht gab es 2014 ein (Meister-)Werk, an dem man nicht vorbei kam. Ursprünglich als Kurzgeschichte von sechs Seiten in der legendären RAW veröffentlicht, legt Richard McGuire hier die Extended Version nach. Formale Revolution dabei: der Comic als Zeitmaschine. Eine in Panels fragmentierte Doppel-Spread-Page (gibt’s dafür ein deutsches Wort?!) zeigt uns einen bestimmten Ort in unterschiedlichen Zeitlichkeiten. Das muss man sehen, um es zu verstehen. Aber wer denkt, dass Hier nur als formaler Gag funktioniert, täuscht sich.
Die einfachen Tatsachen des Lebens: Man war lange Zeit nicht. Unvorstellbar lange nicht. Vor einem gab es ein Jetzt, das von anderen gelebt und bestimmt wurde, von Vorfahren und deren Vorfahren und vor ihnen von niemand, weil es niemanden gab, der gelebt hat und trotzdem gab es eine Gegenwart und es wird sie geben, wenn es einen selbst oder sogar die eigene Spezies schon längst nicht mehr gibt. In diesem Comic sind Menschen: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Ältere, Älteste. Sie tauchen auf, verschwinden, tauchen wieder auf, verschwinden wieder, tauchen dann nicht mehr auf. Dann sind sie nicht mehr.
Aber auch wenn diese ganzen Momente von niemandem erfahrbar waren oder sein werden, man kann sie sich ausmalen, sie zeichnen. In Hier dokumentiert McGuire die Ewigkeit eines Ortes und sein Protagonist ist: der Moment, eine immerwährende Gegenwart. Zeit ist hier nicht als Abfolge von Ereignisse zu verstehen oder als kausaler Fluss, sondern ist ein Monolith, den man von unterschiedlichen Positionen aus betrachten kann.
Das ist intellektuell sehr anregend, quasi comicgewordener Eternalismus. Das hört sich allerdings viel verquaster an (und sieht beim Überfliegen vielleicht auch so aus), als es sich dann am Ende liest. Was mich an McGuires Werk am meisten begeistert und berührt hat, ist, wie authentisch und sicher er in diesem Maelstrom der Intimitäten umherspringt. Die kurzen Soundbites und Dialoge, die Momente familiären Beisammenseins, die einsamen Entdeckungen, die zärtlichen Zweisamkeiten, sie sind prägnant skizziert und dafür braucht McGuire oft nicht mehr als ein Bild bzw. Panel.
Hier wird vom Werden und Vergehen erzählt und von der kurzen Phase, in der die eigene Existenz und das „Jetzt“ sich überschneiden. Chris Ware nennt den Comic „a game-changing graphic novel“. Couldn’t agree more. Comic des Jahres und Anwärter auf die Aufnahme in den „Best-of-all-time“-Pantheon.
Can’t we talk about something more pleasant? (US)
von Roz Chast
Bloomsbury
Und noch einmal ernsthafte (wenn auch keine schwere) Kost. Es handelt sich hier vielleicht weniger um eine Graphic Novel denn eine Illustrated Novel, also ein Buch, dass mit seinen Cartoons (Chast veröffentlicht seit einer Ewigkeit im New Yorker) und Textpassagen frei umgeht und dabei doch ein homogenes Ganzes formt.
Man weiß, im Grunde ist das gute Leben einfach. Es geht darum, die Lebenszeit, die man hat, mit Menschen zu teilen, die man mag. Dass dabei die gemeinsame Zeit mit den Eltern, jenen Urwesen, die man seit Anbeginn seines Lebens kennt, nicht von ewiger Dauer ist, dämmert einem irgendwann und mag eine Binse sein. Aber eben auch eine, die man gerne verdrängt.
Ganz klar, die Stärke von Can’t we …? liegt nicht in seinem Artwork, seinen formalen Ideen oder einem interessanten sequentiellen Erzählen, sondern ist in den wichtigen Fragen verankert, die es aufwirft. Wie begleitet und verabschiedet man die eigenen Eltern in den Tod? Lässt sich in Würde altern und sterben (hint: not really)? Chast quält sich aber auch mit der Dokumentation dieser Fragen, denn es fällt schwer, über Alter und Tod der Menschen ehrlich zu erzählen, die einem am vertrautesten sind. Can’t we …? ist emotional packend, teilweise auch sehr komisch und sogar unterhaltsam, aber – ganz klar – zum Ende hin ziemlich deprimierend. Trotzdem ist Chasts Bestseller absolut empfehlenswert und definitiv eine der besten Veröffentlichungen 2014.
★
DIE TOP 5 VON FRAUKE PFEIFFER
(zuerst erschienen im Rahmen der Serie „Die besten Comics des Jahres“ beim Tagesspiegel)
Platz 5: Das Nao in Brown
von Glyn Dillon
Egmont Graphic Novel
Dieser Comic macht es einem nicht einfach. Wild springen die Gedanken der Illustratorin Nao in ihrem Leben durcheinander, und so springt mitunter auch die Erzählstruktur. Egal ob bei ihrem Job in einem Nerdkramladen, in Gesprächen mit ihrem Chef und gutem Freund Steve oder im buddhistischen Zentrum: Sie sieht sich im Alltag immer wieder Situationen ausgeliefert, mit denen sie nicht umzugehen weiß. Wir schauen ihr beim Verlieben zu und sind oft ihrem Verhalten gegenüber so hilflos wie sie ihrem Leben. Glyn Dillon erschafft dabei mittels alltäglicher Szenen und herrlich lebendiger Zeichnungen einen bemerkenswerten Realismus. Es fällt nicht leicht, Nao zu mögen; aber dieses Zweifeln, das fühlt sich sehr echt an.
Platz 4: Kinderland
von Mawil
Reprodukt
Als Westkind ohne wirklichen Bezug zur DDR stellte ich mir in den 80er Jahren West-Berlin wie eine deutsche Insel in einem fremden Land vor. Umso spannender, wenn jemand aus demselben Jahrgang einen Comic über die letzten Tage der DDR vor Grenzöffnung macht – als Rahmenhandlung für sein eigenes Aufwachsen im Sozialismus. Und nicht überraschend unterscheidet sich dieses in den wichtigen Dingen wie Aufrufen im Sportunterricht und nervigen Mitschülern, denen man es beweisen will, nur sehr wenig von der eigenen Kindheit. Nur wenn bei der Mutter des neuen Klassenkameraden das Parteibuch fehlt und dieser die mehr oder weniger subtilen Konsequenzen zu spüren bekommt, wenn die eigenen Eltern und deren Freunde abends konspirativ im Wohnzimmer tuscheln, dann fühlt’s sich an wie ein etwas unwohles Verschieben der eigenen Realität. Kinderland ist ein persönlicher, nahbarer Comic über Ängste, Prioritäten und das Erlangen des beruhigenden Wissens: Man kommt klar. Übrigens auch sehr zu empfehlen für Tischtennisfans.
Platz 3: Gung Ho 1
von Thomas von Kummant und Benjamin von Eckartsberg
Cross Cult
Dass ein deutscher Comicverlag die Serie eines deutschen Künstlerduos als Lizenzprodukt herausbringt, ist eine interessante, sehr ungewöhnliche Konstellation auf dem hiesigen Comicmarkt. Es sagt schon einiges über Gung Ho aus, dass dessen Chancen von seinem Schweizer Verleger auf dem viel umkämpften frankobelgischen Markt derart hoch gesehen werden. Die dystopische Welt, entwickelt von Benjamin von Eckartsberg, wird augenschmeichelnd und mit eher ungewöhnlichen Techniken wie dem Einfügen von Texturen von Thomas von Kummant umgesetzt. Wie schon bei Die Chronik der Unsterblichen haben die beiden ein hervorragendes Händchen für stimmungsvolle Settings. Gung Ho will einem nicht die Welt erklären, sondern unterhalten. Und das macht es überzeugend und sehr, sehr ansprechend.
Platz 2: Sin Titulo
von Cameron Stewart
Panini Comics
Sin Titulo hat ein bewegtes Leben hinter sich: Erst über insgesamt fünf Jahre lang als Webcomic veröffentlicht – von dem auch eine komplette deutschsprachige Online-Version bei Die Biblyothek/lyberspace.de vorliegt –, dafür mit Eisner und Joe Shuster Award ausgezeichnet, dann 2013 im Original und dieses Jahr auf Deutsch gedruckt. Der renommierte kanadische, mittlerweile in Berlin lebende Künstler Cameron Stewart liefert mit seinem ersten eigenen Comic eine surreale, packende Suche auf Basis eines bisher unbekannten Schnipsels aus der Vergangenheit seines Vaters. Die reduzierte Farbgebung und der minimalistische Zeichenstil sind gefällig, unterstützen die Erzählung hervorragend und erzeugen ein stimmungsvolles Gesamtbild. Sin Titulo ist einer dieser Comics, von denen man weiß, dass man sie garantiert ein zweites oder drittes Mal lesen wird.
Platz 1: Come Prima
von Alfred
Reprodukt
Den französischen Künstler Alfred kennt man bereits als Zeichner des starken Warum ich Pater Pierre getötet habe. Für das als Roadmovie daherkommende, in Angoulême prämierte Come Prima (Wie einst) zeichnet er nun alleine verantwortlich. Auf der Reise zweier entfremdeter Brüder in ihre italienische Heimat Ende der 1950er Jahre offenbart sich mit der Zeit eher unfreiwillig der Hintergrund der familiären Zerwürfnisse. Dabei verwebt Alfred die politischen Hintergründe des faschistischen Italiens mit persönlichen Erinnerungen der Familie, was auch durch wunderschöne, wechselnde Zeichenstile zur Geltung kommt. Er gesteht seinen Figuren Fehler zu, lässt sie sich später zart einander annähern. Einfühlsam, mitunter schmerzlich und mit einem wunderbar beiläufigen Humor versehen.
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