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The Inglorious Dokter – Die Dipperz-Comics bei Eisenfresser und Schwarzer Turm

Was können uns eigentlich die alten Dipperz-Stories von Rochus Hahn heute noch bieten? Heute gehen wir gemeinsam zurück in die Ära des alten Menschenblut-Magazins und lesen noch mal deutschen Underground der 80er. Und wenn wir schon dabei sind, prüfen wir auch noch, wie gut eigentlich der Wandel vom alten „Dokter Dipperz“ der Menschenblut-Hefte zum seriöseren, erwachseneren „Doktor Dipperz“ ab 2001 funktioniert hat. Oder war die Serie des neuen Jahrtausends dann zu clean?

Unterhaltung für Abhänger. Von Menschenblut bis Dipperz © Schwarzer Turm, © Eisenfresser.

Das alte Menschenblut

Pornos kaufen kostet weniger Nerven. Die erste Reaktion meines Comichändlers, als ich nach Menschenblut #16/17 fragte, war ein fröhliches „Was liest denn du für’n Scheiß“. Als ich dann noch nach anderen Back-Issues fragte, rief sein Mitarbeiter quer übern Laden: „Haben wir noch Menschenblut im Keller?“ Es ist schon eine Hemmschwelle, die man übertreten muss, wenn man die Doppelnummer 16/17 oder Menschenblut 33 erwerben will, sofern das nicht damals hinter schwarzen Schutzumschlag war, dem Einheitslook für Publikationen für Menschen mit abseitigen Wünschen.

Aber was bleibt einem anderes übrig, wenn man Fan der Dipperz-Comics war, die ab 2002 bei Schwarzer Turm erschienen? Diese kurzlebige Indie-Reihe war nur der Relaunch einer Serie, die schon in den 1980ern im berüchtigten Magazin Menschenblut ihren Anfang nahm, einem Magazin, bei dem viele spätere Szenegrößen frühe Veröffentlichungen hatten, so auch der durch Film und Fernsehen bekannte Drehbuchautor Rochus Hahn, der bei nahezu allen Dipperz-Geschichten für Idee und Story verantwortlich war. Aber die späten Doktor-Dipperz-Geschichten ab 2002 waren aus einem anderen Holz als das frühere Menschenblut-Zeug, bei dem noch bewusst falsch vom „Dokter Dipperz“ die Rede war – seit Quentin Tarantinos „Basterds“ von 2009 mutet diese Schreibweise ja nachgerade visionär an.

Zur allerersten Dipperz-Geschichte in Menschenblut #2 von Mille (Michael Möller) und Robi (Rochus Hahn) ist mir leider bis heute der Zugang verwehrt, das seltene Juwel ist vor allem in selten angebotenen Menschenblut-Komplettpaketen zu finden, für die man aber tief in die Tasche greifen darf. Ich kann dazu leider nur die Zusammenfassung zitieren, wie sie im ersten Dipperz-Heft vom schwarzen Turm zu lesen ist:

„Es begann mit einer Wette: schaffst du es, jeden Abend eine Seite zu zeichnen? Entsprechend sieht das Ergebnis aus. Trotzdem wurde die Story um einen verrückten Arzt, der Leute hypnotisiert, um ihnen die Unterschenkel zu amputieren, schnell zum Kult. Längst vergriffen.“

Ich wechsle gleich zu Menschenblut #8, in dem sich der zweite Auftritt des Dokters befindet. Dort arbeitet er in der Küche eines verwunschenen Restaurants in einem deutschen Hexenwald, wo ein englischer Gourmet erhofft, echtes Menschenfleisch serviert zu bekommen – eine recht grobe Geschichte, die uns Robi hier gestrickt hat, aber von Mille Möller charmant in Szene gesetzt. Wenn der Chefkoch im Restaurant „Zum blutigen Knochen“ Dipperz heißt, dann kann man davon ausgehen, dass unserem Gourmet zuletzt sein eigenes Bein serviert wird. Dass das dem gar nicht so viel ausmacht und er es mit einem launigen „You crazy Krauts“ kommentiert, ist dann schon fast die zweite Pointe auf einer Seite. Ja, so war das alte Menschenblut, immer für einen schlechten Joke zu haben und in Sachen Geschmacklosigkeit dann lieber ein Stück zu weit als die Grenzen nicht ausgereizt. Der Grund, warum das Heft auf dem Index gelandet ist, dürfte aber – eigentlich banal – an der bloßen Erwähnung des Film Das Haus an der Friedhofsmauer liegen. Und Robi schreibt natürlich auch noch: „Wir Menschenblutler gehn ja nachts nach dem samstäglichen Frauenmord gern ein Bier trinken, oder ins Kino.“ Ihr Psychos. In der Dipperz-Zusammenfassung vom schwarzen Turm steht zu Menschenblut #8:

„Das Heft wurde indiziert und darf seitdem nicht mehr beworben werden. Wir raten daher dringend von seinem Kauf ab.“

Da lacht das Blutkind. Dipperz in einer frühen Inkarnation. Die Figur ist offensichtlich noch nicht fertig. Text: Robi. Bilder: Mille Möller. Aus Menschenblut #8.

Nach #11 erschien dann einige Jahre nichts mehr, da eine Dauerindizierung drohte. Anfang der 90er raffte sich die Blutkru, bestehend aus Michael Möller, Michael Hau und Rochus Hahn, neu auf. Die Editorials waren dabei eher noch fieser als früher, einiges von dem, was Blutkind von sich gab (wer auch immer gerade unter diesem Pseudonym schrieb), wäre heute völlig undenkbar, aber politisch inkorrekt war seinerzeit auch noch kein Politikum: Im Magazinteil gab es derbe Geschmacklosigkeiten, Eisenbahnerwitze von der Sorte „Da lacht das Blutkind“ (von Ghouls für Ghouls sozusagen), Filmkritiken (Pelle Felsch schrieb wunderbare Kritiken zu Filmen wie Killing Zoe, Once were warriors und immer wieder auch sehr indizierten Sachen), Bosheiten gegen die BpjM, Bosheiten gegen Spießigkeiten (Yoko Tsuno finden sie furchtbar bieder) und politisch Korrektes – und manchmal war das auch ganz schön lustig. Das war der Nährboden, auf dem Robi (Rochus Hahn) von nun an seine stetig ambitionierter werdenden Dipperz-Stories gedeihen lassen konnte.

Der nächste Auftritt des Dokters kam in der Doppelnummer 16/17. Für das Cover hatte Steff Murschetz eine fiese Bondage-Szene gestaltet, in der der gefesselten Frau ein Hammer tief eingeführt ist, der die Menschenblut-Aufschrift im oberen Drittel überragt. Für die Perspektive ist „explizit“ ein zu schwaches Wort. Wenn man genau hinsieht, sieht man, dass die Gefesselte auch noch einen Nagel im Kopf hat. Sowas kaufen bloß ganz Harte.

Die Breslauer Chroniken

Dass Rochus Hahn um 1994 als Autor enorm gereift war, erkennt man sofort an seiner ersten, von Atze Atzenhofer gestalteten Dipperz-Geschichte der 1990er. „Die Breslauer Chroniken“ beginnt mit zwei Seiten Tagebuchaufzeichnungen des Dokters, worin er von seiner bahnbrechenden Erfindung berichtet, einer Art Unterdruckkammer, mit der es möglich ist, Menschen am offenen Herzen zu operieren. Dipperz ist frustriert, dass er kein weiteres Geld für seine Forschung erhält. Später erfährt er, dass der bekannte Mediziner Ferdinand Sauerbruch seine Idee geklaut hat und nun Ruhm und Ehre dafür einfährt. Und nicht nur das: Auch sein Love-Interest, die schöne Medizinerin Demeter Knie, wurde ihm von Sauerbruch ausgespannt. Am wohlsten fühlt sich Dokter Dipperz im Kühlhaus unter Leichen, manchmal nimmt er Morphium gegen den Liebeskummer. Unter Droge sind seine Tagebucheinträge viel unbekümmerter und schlampiger.

Aber Max Dipperz bleibt der Forschung erhalten. Die Vorlesung eines medizinischen Scharlatans überzeugt ihn, dass das menschliche Knochengerüst in Verbindung steht mit Emotionen wie Liebe, Hass oder Eifersucht, für den liebeskranken Dokter genau das richtige Forschungsfeld. Durch grausame Tierversuche gelangt er zu der Überzeugung, dass alle bösen Emotionen ihren Ursprung im linken Unterschenkel haben. Um sich von der Eifersucht gegenüber Demeter zu befreien, amputiert er sich selbst das linke Bein und bietet sich ihr am Folgetag als professioneller Mitarbeiter ohne negative Gefühle oder Besitzanspruch an. Die Gruppe der Akademiker verjagt ihn angewidert, so dass Dipperz sich gezwungen sieht, weitere Überzeugungsarbeit zu leisten. Er schleicht sich nachts in Demeters Schlafgemach, hypnotisiert sie und amputiert ihr das linke Bein.

Den Dokter Dipperz finden alle abstoßend. Artwork: Atze. Story: Rochus Hahn. Aus Menschenblut #16/17

Aber der neue Tag bringt keine bessere Demeter zu Tage, stattdessen schickt sie dem fassungslosen Dokter die Polizei auf den Hals. Der erkennt recht schnell den Grund, weshalb die Frau seines Herzens seine Gefühle immer noch nicht erwidert. Demeter ist Linkshänderin, entsprechend hätte er ihr nicht das linke, sondern selbstverständlich das rechte Bein amputieren müssen – welch tragischer Kunstfehler. Als sich Dipperz Demeter nähert, um seinen Irrtum zu korrigieren, stürzt sie sich aus Verzweiflung aus dem Fenster. Um die Welt dennoch wenigstens etwas besser zu machen, hypnotisiert er die Polizisten, die ihn verhaften wollten und entfernt wenigstens diesen ihren bösen Punkt (und wer das völlig drüber findet, sollte sich tunlichst daran erinnern, dass er völlig damit einverstanden war, als Arnie in Terminator 2 braven Polizisten die Kniescheibe wegschoss – eigentlich lupenreiner Menschenblut-Humor). Am Ende verlässt Dipperz Breslau, um in der weiten Welt sein Glück zu machen.

Des Dokters Sohn

Die nächste Story, von Robi und Mille geschrieben, gezeichnet von Stefan Atzenhofer, zeigt unseren liebsten Mad Scientist im Jahr 1932 in Kassel. Um zur richtigen Stunde am richtigen Ort zu einem Kind zu gelangen, beteiligt er sich als Geburtshelfer, kaum aber hat er das Neugeborene in Händen, hypnotisiert er alle Anwesenden und macht sich mit dem Kind aus dem Staub. Wie ein alter Vampir manipuliert er alle Menschen um sich herum mit seinen hypnotischen Kräften – aber natürlich geht es ihm immer noch um nichts Anderes als das Wohl der Menschheit.

Die Säge ist Familie. Artwork: Atze. Story: Rochus Hahn und Michael Möller. Aus Menschenblut #18.

1932 fasziniert ihn Schädeltrepanation, doch er kann nicht akzeptieren, dass diese Methode zwar schon unter Naturvölkern bekannt war, dass sie aber nur zu so etwas Profanem wie zur Linderung von Schmerzen angewandt wurde: „Die Trepanation als frühzeitliches Kopfschmerzmittel? Das mag glauben wer will.“ Max Dipperz ist der Überzeugung, dass das Böse keine Chance hat, wenn das Gehirn nur genug Licht und Raum zum Wachstum erhält. Man müsste den Menschen unter dieser Voraussetzung noch nicht mal den bösen Punkt absägen.

Mit der ihm eigenen Anmaßung sägt er also seinem gestohlenen Sohn die Schädeldecke auf und setzt sein Gehirn frei. Um aber nicht weiter aufzufallen, packt er seine geliebte Amputationssäge vorerst weg und macht sich als kundiger Hausarzt in seinem Wohnort, einem kleinen Nest namens Tann, äußerst beliebt und nützlich. Sein Kind trägt aber stets einen Hut, ebenfalls, um nicht mit seinem freigesetzten Hirn weiter aufzufallen. Dann aber geschieht Wunderbares. Jeder Mensch, der auch nur in die Nähe seines Sohnes Philip kommt, lässt sofort ab von sämtlichen negativen Gefühlen: Kinder schlagen sich nicht mehr untereinander, erboste Eltern schlagen ihre Kinder nicht, entlaufene Zirkuslöwen werden in seiner Anwesenheit zahm. Ganz Tann entwickelt sich zu einer Enklave des Friedens.

1939 aber bekommt ein SS-Mann aus Fulda die „Akte Tann“ auf den Tisch. Es ist aktenkundig geworden, dass es in ganz Tann noch kein NSDAP-Mitglied gibt. Auch die „Reichspogromnacht“ hat dort nie stattgefunden, also wird eine SS-Delegation unter Führung des Sturmbannführers Hoppe dorthin geschickt. Einige Tage später nimmt Hoppe Kontakt zu Heinrich Himmler auf und erzählt diesem aufgeregt am Telefon: „Dieser Junge hat ein ganzes Dorf zusammengeschweißt. Sie müssen sich diesen Jungen anschauen, dann werden Sie verstehen, was ich verstanden habe. Es gibt einen Weg, der anders und richtiger ist. Diese Kind wird die ganze Welt einen.“

Was ist da los, was wird da g’spielt … ?.Artwork: Atze. Story: Rochus Hahn und Michael Möller

Beinahe hätte es diese Leben nie gegeben. Artwork: Atze. Story: Rochus Hahn und Michael Möller

Der Reichsführer schäumt. Da man jedoch keinen Soldaten auch nur in die Nähe des Kindes schicken kann, ohne dass dieser seine Befehle vergisst und friedfertig und gut wird, heckt die SS-Führung einen perfiden Plan aus, um das Kind per Fernzündung zu eliminieren. Schon kurze Zeit nach der schändlichen Tat gibt es die ersten Parteieintritte. Der Dokter aber flüchtet aus Tann, nicht ohne vorher noch zwei SS-Leuten die Unterarme und -schenkel zu amputieren und in Form eines Hakenkreuzes zu hinterlegen.

Der Dokter also als antifaschistischer Held? Der Fall dürfte ähnlich gelegen sein wie damals, als Alberto Breccia Bram Stokers Dracula in das Argentinien der Militärdiktatur versetzte. Gegenüber der maßlosen Brutalität des Staatsapparats erscheinen die Monster von früher harmlos.

Vorstoß nach Afrika

„Vorstoß nach Afrika“ beginnt 1944 im Kessel von Stalingrad. Ein Wehrmachtsoldat namens Köster erinnert sich unter Hypnose plötzlich daran, wie ihm 1932 ein dämonischer Doktor (der Dokter) seinen Sohn bei der Geburt gestohlen hat. Die mächtige Hypnose des Dokters hatte bis zu eben diesem Zeitpunkt die Erinnerung an das Geschehen überlagert, nun aber ist ihm sonnenklar, was damals 1932 geschehen sein muss. Bis zu diesem Zeitpunkt war er lebensmüde, vor allem, seit seine Frau bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war, jetzt aber schwört er sich: sollte er den Krieg überleben, würde er den Geschehnissen von damals auf den Grund gehen und sich rächen.

Bald erfährt er mehr über das Kind  mit aufgemeißeltem Schädel und dem Bann, unter dem alle im Dorf Tann standen, das seit den Geschehnissen kurz vor dem Krieg zu einem Wallfahrtsort geworden war. Der Dokter indes hatte sich längst nach Afrika abgesetzt und erarbeitete sich auch dort einen guten Ruf als Dorfarzt, schlussendlich aber hat er dort seinen Lebensmut verloren und betäubte die Trauer um seinen verlorenen Sohn mit Opium. Köster, besessen davon, den Dokter seiner gerechten Strafe zuzuführen, findet auf seiner Reise nach Afrika einen Begleiter namens Conway, der ebenfalls auf der Suche nach Dipperz ist. Conway sieht in Dipperz als Wunderarzt die einzige Möglichkeit, seine kranke Freundin Julie zu heilen.

Bald ist das Wunder von Bern. Artwork: Atze. Story: Rochus Hahn. Aus Menschenblut #24.

Robi und Atze entwickeln aus dieser Konstellation eine stimmungsvolle Geschichte, die die Mentalität der Nachkriegsära gut einfängt. Köster ist ein typischer Wehrmachtssoldat mit übersteigertem Kameradengeist, der sich mit einem ehemaligen Feind verbündet und mit ihm auf eine gemeinsame Suche geht. Ihren Konflikt aber, ob der Dokter nun getötet werden (Köster) oder als Wunderarzt zum Einsatz kommen soll (Conway), lösen sie, nachdem sich Krieg als so schlechte Lösungsstrategie entpuppt hat, mit einem Fußballspiel 1 gegen 1 – hier lässt Rochus Hahn deutlich durchblicken, dass er gedanklich schon mit einem Drehbuch beschäftigt ist, aus dem schließlich Sönke Wortmanns Erfolgsfilm „Das Wunder von Bern“ werden sollte.

Wer heilt, hat Recht. Artwork: Atze. Story: Rochus Hahn

Der Biss einer Giftschlange aber beendet die kurzfristige Freundschaft. Als Köster seinen Kameraden Conway sterben sieht, nimmt er es als Verpflichtung auf sich, sich um die hinterbliebene Julie zu kümmern. Als Köster Dipperz schließlich auffindet und erkennt, dass dieser nur noch ein Schatten seiner selbst ist, verhilft ausgerechnet Köster ihm zu neuem Lebensmut und überzeugt ihn davon, Julie zu heilen. Das aber macht der Dokter auf seine Weise: zum ersten Mal seit 14 Jahren greift er wieder zur Säge und entfernt den bösen Punkt der Frau. Ob es wirklich der Makel im Unterschenkel war? Aber Julie wird gesund und sechs Monate später heiraten sie und Köster – eine Partnerfindung, wie sie in den Nachkriegsjahren sicher oft stattgefunden hat. Dann aber entsinnt sich Köster doch seines Wunsches nach Rache. Er bringt Dipperz wegen Kindesraubs vor Gericht, und da die Beweislage zu den Vorgängen in Kasel erdrückend ist, wird der Dokter zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt.

Die Geschichte des Jens Dreifürst. Artwork: Geier. Text: Rochus Hahn. Aus Menschenblut #26.

Das Reich Gottes

Menschenblut #26 enthält die bisher längste Dipperz-Geschichte. Mit 34 Seiten ohne Werbung hat Geier (Jürgen Speh) hier eines der außergewöhnlichsten, düstersten und besten deutschen Independent-Hefte gestaltet. Sowohl erzählerisch als auch grafisch, sogar was das Setzen der Textblöcke und das Letteringangeht, bewegt sich „Das Reich Gottes“ auf dem Niveau der besten Vertigo-Comics der frühen 90er-Jahre, der Ära von Serien wie Sandman, Hellblazer oder Shade, als Vertigo noch eine surreale Macht war und nicht, wie in den späteren Jahren, ein Netflix-Vorläufer auf Papier.

Die Handlung setzt 1946 ein. Überall in Deutschland streifen Heimatvertriebene und displaced persons umher, die in bitterer Armut leben, und so wird ein gutmütiger junger Uhrmacher namens Jens Dreifürst in einen Streit verwickelt, der zwischen einem Bauer mit einer armen Familie Vertriebener verwickelt, die nur etwas Obst von einem Baum wollten. Der christlich sozialisierte Dreifürst will schlichten, aber durch einen Steinwurf der Mutter wird der Bauer am Kopf verletzt. Edelmütig nimmt der junge Mann die Schuld auf sich, da er annimmt, die Wahrheit käme ohnehin schnell ans Licht. Aber dann verstirbt der Bauer, und Dreifürst wird zu zehn Jahren im Zuchthaus von Lauterbach verurteilt.

Die Hölle von Lauterbach. Wenn der Geier mit dem Hahn ...

Dort führt ein ehemaliger SS-Offizier namens Brandt ein finsteres Regiment, und neue Häftlinge werden gezielt gedemüdigt und sexuell missbraucht. Beim Versuch, sich über das offizielle Beschwerdesystem zu wehren, verstößt Dreifürst im Nachgang seiner Vergewaltigung gegen die Omerta unter den Häftlingen, so dass Brandt seine Autorität untergraben sieht und den Jungen noch übleren Demütigungen aussetzt. Der widersetzt sich nach Kräften: Als die Situation eskaliert, zerbricht Dreifürst eine Flasche und droht Brandt, sein Geschlechtsteil zu zerfetzen, letztlich verliert er aber aus Angst vor den angedrohten Konsequenzen den Mut. Er spuckt dem SS-Mann wütend ins Gesicht, zur Strafe dafür werden ihm bei lebendigem Leib die Knochen gebrochen.

Auch Max Dipperz ist Häftling in Lauterbach. Man nennt ihn Eisenkugel, denn um seine hypnotische Macht zu bannen, trägt er im Gemeinschaftsraum immer einen Rundum-Stahlhelm. Als Gefängnisarzt versuchte er von Anfang an, den jungen Insassen auf den rohen Umgang in Brandts „Reich Gottes“ vorzubereiten, aber nun kann er nur noch den zerstörten Körper des Geschundenen irgendwie retten. Es ist die Stunde des Dokters. In einer grotesken, 50 Stunden währenden Operation baut er Dreifürsts Knochengerüst funktional um, so dass der junge Mann zwar grotesk deformiert bleibt, aber weiterleben kann.

Dokters Aufzeichnungen.

Dipperz‘ Geschöpf.

Die Jahre vergehen. Dreifürst steigt trotz – oder vielmehr wegen – seiner grotesken Gestalt in der Gefängnishierarchie auf. Keiner denkt auch nur daran, ihn noch vergewaltigen zu wollen, stattdessen gelingt es Dreifürst, das Vertrauen von Brandt und seinem Tross zu finden. Am Ende wird er sich blutig rächen und endgültig zum neuen Herrscher aufsteigen.

Eines Tages erhält Dreifürst, der längst seinen Glauben verloren hat und an der Spitze seines eigenen „Reiches Gottes“ steht, Besuch von der Tochter der Familie, die er doch damals, als er noch gut und schön war, beschützen wollte. Die junge Frau hat einen Blanko-Entlassungsschein erwirkt, in den Dreifürst nur noch seinen Namen einsetzen muss. Aber Dreifürst lehnt ab: „Da draußen wäre ich nur ein armseliger Krüppel, eine Lachnummer. Hier im Knast bin ich eine Macht, der liebe Gott, und vielleicht krieg ich sogar noch die Kurve“. Statt seiner gewährt er die Entlassung dem Dokter.

Flying free.

Auch in „Das Reich Gottes“ ist der makabre Humor der bisherigen Dipperz-Geschichten intakt, die bisher aber oft ironisch-witzige Erzählhaltung weicht aber jetzt endgültig einer größeren Ernsthaftigkeit. Die völlige Trostlosigkeit der Geschichte in Kontrast mit den klaren Zeichnungen Spehs verleiht der Geschichte eine eigenartige Schönheit. Mit seiner grotesken Umgestaltung eines Menschen wirkt Dipperz dabei wie die seriösere Variante der Figur des Dr Anton Arcane aus den Swamp-Thing-Geschichten, der ja auch stets an seinen grotesken, menschenähnlichen Un-Men arbeitete.

Derselbe Krieg, ein anderer Doktor. Aus Swamp Thing #83. Text: Rick Veitch. Zeichnungen: Tom Mandrake und Alfredo Alcala.

In einer 1989 von Rick Veitch erzählten Story wurde Arcane in demselben zeithistorischen Kontext der zwei Weltkriege eingebettet, in dem auch die Dipperz-Geschichten spielen: einmal als Arzt im Feldlazarett des Ersten Weltkriegs, später als Nazi-Doktor in einem abgelegenen Schlachthaus, in dem Arcane aus Leichenteilen und mit magischen Büchern wie dem Necronomicon seine Unmenschen baut. (Das Necronomicon und anderer Lovecraft-Kram waren zwar weniger bei den Dipperz-Geschichten, aber doch bei vielen Menschenblut-Geschichten eine verlässliche Referenz.) Anders als Rick Veitch vermeidet Rochus Hahn bei Dipperz aber eine Trivialisierung der nationalsozialistischen Verbrechen, und statt einer völligen Dämonisierung hält er seinen grotesken Dokter immer ambivalent, der in seiner grotesken Paarung aus Wahnsinn und übersteigerter Vernunft auf seine Art ja doch das Gute will.

Das Geheimnis des Kosmonauten

Vor einigen Jahren gab es einen kleinen Hype um mögliche Marsmissionen, den ich stets befremdlich fand. Gibt es wirklich Menschen, die alles auf der Erde zurücklassen würden, um den Rest ihres Lebens als Pionier auf einem lebensfeindlichen Planeten zu verbringen? Was sollte man von solchen Menschen halten? Offensichtlich ist die Dipperz-Geschichte aus Menschenblut #33 um einen russischen Kosmonauten in den 60er Jahren nicht so weit hergeholt. Zur Zeit des Space Race zwischen USA und UdSSR war Opferbereitschaft durchaus erwünscht und wurde nach Kräften gefördert.

Der Westen wollte ihn nicht, also operiert Max Dipperz jetzt für die Sowjets. Eine lebende Hündin hatten sie ja schon ins Weltall gebracht, aber jetzt geht es darum, einen Menschen nach oben zu bringen, der die Maschinen auch bedienen kann. Zum derzeitige Zeitpunkt darf so ein Pilot aber nicht mehr als 20 kg wiegen, und da die Weltraumbehörde keine kleinwüchsigen Kosmonauten hat, ist Dipperz‘ Expertise gefragt. Der reagiert empört: „Ich soll einen Mann verstümmeln, damit sie ein albernes Wettrennen in fliegenden Konservendosen gewinnen? Auf gar keinen Fall! Ich arbeite im Dienste der Menschheit und nicht gegen sie!“ Aber die Aussicht auf neue Forschungsergebnisse ist dann doch zu verführerisch, vielleicht ließen sich ja weitere böse Punkte im menschlichen Körper finden. Die Sowjets wissen schon, welche Knöpfe sie bei ihrem Dokter drücken müssen, um ihn doch noch für das Projekt heiß zu machen.

Mit der Amputation des linken Beines ist es da nicht getan. Also opfert unser glühender Sowjet und Kosmonaut Danilowitsch, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, gerne auch sein zweites Bein und einen Großteil seiner Arme. Der Unterarm aber wird an der Schulter wieder eingesetzt, das genügt zum Bedienen der Bordinstrumente. Ebenso wenig benötigt er sein linkes Schlüsselbein und Schulterblatt sowie seine rechte Lunge. Und der halbe Magen reicht auch. Für die Propaganda allerdings präsentieren die Sowjets stolz ihren Juri Garin als gutaussehenden  Kosmonauten. Man hat Angst, dass die Kapitalisten des Westens Danilowitschs patriotische Tat in den Schmutz ziehen.

Uff. Story von Bernd Frenz. Zeichnungen: BiMi. Aus Menschenblut #33.

Das Geheimnis des Kosmonauten ist die einzige Dipperz-Geschichte, die nicht von Rochus Hahn stammt. Geschrieben wurde die grimmige Story von Bernd Frenz, gestaltet hat sie der Bildermicky Michael Hau. „Das Geheimnis des Kosmonauten“ ist ein kleines Horror-Meisterwerk, das einige Stephen-King-Freunde vielleicht an dessen Autophagen-Story „Überlebenstyp“ erinnern mag, in der ein Arzt mit einem Koffer voll Heroin sowie Chirurgenbesteck auf einer Insel strandet; um zu überleben, betäubt sich der Arzt darin mit milden Dosen und beginnt damit, sich selbst zuzubereiten. Nur die unwichtigen Körperteile, versteht sich. Die Story endet mit der Frage, ob er denn eine Hand ausreicht, um weiterleben zu können. Frenz hat sein krankes Szenario allerdings um eine politische Dimension angereichert, die beklemmend plausibel ist.

Der Ring des Meisters

In Menschenblut #35 findet sich die letzte Dipperz-Geschichte, bevor der abgefahrene Dokter seine eigene Serie bekam, der Titel lautet „Der Ring des Meisters“. Die von Robi und Geier gestaltete Geschichte spielt 1903/04 und wirkt wie eine Weiche, die einerseits als Prequel zu den bisherigen Dipperz-Stories funktioniert, in ihrer schon deutlich gemäßigten Erzählhaltung kündigt sie aber auch schon den Stil an, wie es ab 2002 bei bei Schwarzer Turm weitergehen würde. Von nun an wird auf das das Durchgeknallte weitgehend verzichtet werden.

In „Der Ring des Meisters“ erzählen Geier und Robi von Dipperz‘ Kindheit. Dipperz ist der talentierte Lehrling eines Uhrmachers, der gleichzeitig sein Stiefvater ist. Obwohl der junge Max das Talent hat, bekommt aber immer nur sein Stiefbruder Anerkennung für geleistete Arbeit, für Dipperz gibt es, wenn er auf seine Leistungen hinweist, eher Schläge aufgrund von Anmaßung. Deshalb beschließt der junge Dipperz, beim fahrenden Medicus Erasmus in Ausbildung zu gehen, wo er viel über Anatomie und Heilkunde lernt. Aber der absinthsüchtige Erasmus hat eine folgenschwere Schwäche: Manchmal betäubt er die Frauen, die ihm viel zu sehr vertrauen. Dann vergeht er sich an ihnen.

Eines Tages wird Erasmus in einem Dorf mit den Konsequenzen seiner Missbräuche konfrontiert. Eine empörte Mutter konfrontiert ihn mit seinem inzwischen halbwüchsigen Sohn und übergibt ihn ihm, auf dass er von nun an seinen Teil der Verantwortung annehme. Schnell zeichnet sich ab, dass Blut dicker als Wasser ist. Erasmus erkennt den Sohn voll und ganz an, während der junge Dipperz mehr und mehr ins Hintertreffen gerät, ganz wie er ja auch bei seinem Stiefvater, den Uhrmacher, stets die zweite Geige zu spielen hatte. Obwohl Max Dipperz längst der versiertere Mediziner geworden ist, vermacht Erasmus lieber seinem leiblichen Kind sein größtes Statussymbol, den Ring seines chinesischen Meisters. Dipperz tötet den Sohn aus Eifersucht. Erasmus sucht neun Tage nach ihm, dann geht die Reise weiter, während Dipperz die böse Tat für sich selbst zu rechtfertigen versucht.

„Es geht nicht anderst!“ Rochus Hahn hat ein Händchen dafür, Sprache regional klingen zu lassen, ohne dass es bemüht wirkt. Geier und Robis zweite Dipperz-Kollaboration. Aus Menschenblut #35.

„Der Ring des Meisters“ spielt geschickt mit dem Leitmotiv, das bereits „Die Breslauer Chroniken“ vorgegeben haben: Dipperz als ewig zurückgewiesener Zweiter. Zudem erzählt uns „Ring des Meisters“ die Ursünde des Dokters, was auch plausibel werden lässt, weshalb er stets so nah an der Schwelle des Wahnsinns operiert und wie besessen nach „bösen Punkten“ forscht. Es gilt schließlich, auch den eigenen bösen Punkt zu finden.

1914: Der Anfang des Krieges

Ab der #1 der Dipperz-Heftreihe, die nach Menschenblut veröffentlicht wurde, ist von bösen Punkten dann erst mal keine Rede mehr. Man legte jetzt Wert darauf, dass der alte Dokter Dipperz jetzt korrekt den Titel Doktor trägt, dass er keine hypnotischen Kräfte mehr hat und dass er nicht mehr bei jeder Gelegenheit Beine amputiert. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt: Das von Diana Sassé gestaltete Dipperz #1 spielte zum Ausbruch des Großen Kriegs 1914 bis 1918, der Doktor sollte also reichlich Grund zum Amputieren bekommen.

Max Dipperz ist als Feldmediziner im Ersten Weltkrieg unterwegs und wird mit der fanatischen Kriegsführung eines ehrgeizigen Hauptmann konfrontiert, der seine Soldaten immer wieder gegen feindliche Stellungen anreiten lässt, obwohl der Kampf gegen die Maschinengewehre der Belgier aussichtslos ist. Diana und Robi erzählen uns eine solide Kriegsgeschichte im reduzierten Stil der Graphic Novels, wie sie im neuen Jahrtausend bald en vogue werden sollten. Die Figur des Doktor Dipperz bleibt die meiste Zeit über allerdings erstaunlich konturlos, und allein die Vorkenntnisse von „Der Ring des Meisters“ sowie die Schuld, die Dipperz auf sich geladen hat, verleihen der Figur Spannung und Tiefe. Die Fallhöhe ist da, aber sie wird in der Episode „1914: Der Anfang des Krieges“ kaum genutzt.

Das erste Kriegsjahr. Die Nerven liegen blank. Artwork: Diana Sassé. Text: Rochus Hahn.

Am Ende fällt Dipperz dem Komplott eines konkurrierenden Feldarztes zum Opfer und wird standrechtlich erschossen. Aber Dipperz überlebt den Kopfschuss. Vielleicht ist das hier entstandene Hirntrauma ja der tatsächliche Auslöser, warum Dipperz später so fanatisch Beine amputieren möchte – auch diese Lesart ist plausibel und reißt eine neue Deutungsebene an. Das Potenzial für eine große, geschlossene Erzählung ist immer noch da. Aber wenn Rochus Hahn tatsächlich einen Plan hat, wie er die bisherigen Stories zusammenführen möchte, dann muss er sich fokussieren. Bei deutschen Independent-Heftchen, von denen jährlich nur eines erscheint, werden erzählerische Durchhänger nicht lange verziehen.

Die grüne Hölle / Blankas Story

2004 ging der Zeichenstift weiter an Robert Andreas Drude, von dem nur sehr wenige Comicarbeiten vorliegen. Der Dipperz-Zweiteiler „Die Grüne Hölle“ war in dieser Gattung ganz sicher ein Kraftakt. Mit 96 Seiten hat „Die grüne Hölle“ exakt den Umfang eines Taschenbuchs des italienischen Bonelli-Verlags, hierzulande am ehesten durch die Dylan-Dog-Taschenbuchreihe bekannt geworden – und tatsächlich erzählen Andreas Drude und Rochus Hahn in dem sehr aufgeräumten, aber unheimlich effizienten Stil der Bonelli-Bücher eine realistische Abenteuerstory, die man als späten Höhepunkt der Dipperz-Saga ansehen sollte.

Die Story spielt 1982, Dipperz müsste bereits über 80 sein, erfreut sich aber nach wie vor äußerster Vitalität. In einem Nest in Südamerika ist er gestrandet und freut sich, dass er von einer Gruppe Abenteurer engagiert wird, die im Urwald nach einer abgestürzten Maschine suchen wollen, um die Pilotin Blanka zu retten bzw. zu bergen. Jeder der Abenteurer steht in einer anderen Beziehung zu dieser Frau, das Entwirren dieser Zusammenhänge macht den großen Reiz dieser präzise geplotteten, spannenden Geschichte aus.

Dipperz spielt in dem Zweiteiler „Die grüne Hölle“ nur eine kleine Rolle. Dafür dreht sich in der interessanten Story alles um eine Frau namens Blanka. Artwork: R.A. Drude. Text: Robi

Max Dipperz ist in dieser Geschichte kein wichtiger Akteur, steht die meiste Zeit eher beobachtend im Hintergrund, gegen Ende allerdings glänzt er als Ratgeber, dem es gelingt, den Akteuren, deren Leben im Lauf der Geschichte völlig umgekrempelt wird, eine neue Tür im Leben zu öffnen. Von bösen Punkten, Meridianen oder Beinamputationen ist hier keine Rede mehr, Doktor Dipperz ist in dieser Geschichte ganz offensichtlich am Ende seiner Reise angekommen und nicht mehr die verrückte, getriebene Figur früherer Geschichten.

Es hätte die Figur des Dipperz nicht benötigt, um „Die Grüne Hölle“ zu erzählen, dennoch gelingt es Rochus Hahn, hier einen weiteren Pfeiler in der Erzählung einzuschlagen, die vom Wahnsinn der „Breslauer Chroniken“ bis zu eben diesem Endpunkt reichen. Aber eine deutsche Indie-Reihe kann natürlich nicht an allen losen Enden weiterfabulieren, wie das zum Beispiel in Joann Sfars und Lewis Trondheims Donjon der Fall ist. Das Potenzial dazu wäre durchaus gegeben.

1933: Cora

Mit einem letzten, 2008 erschienenen Heft sollte die Reihe dann zum Abschluss kommen. Die Story ist in mehrfacher Hinsicht eine Rückkehr zu den Wurzeln. Einerseits wird vollkommen ausgeblendet, dass Dipperz 1933 eigentlich seinen Sohn hatte und im Dörfchen Tann durch ihn eine kleine utopische Idylle am entstehen war, andererseits ist Dipperz hier mal wieder in seiner Rolle als mad scientist, diesmal als Variante des Re-Animator. Eines Tages bekommt er an seinem Arbeitsplatz in der Berliner Charité die Leiche der jungen Frau Cora in seinen Obduktionsraum geschoben. Erst wenige Tage zuvor war er ihr bei einer Straßenschlacht gegen SA-Kämpfer zur Seite gestanden, jetzt aber ist sie Opfer eines Mordanschlags geworden.

In der von Holger Nüssle nach einem Skript von Robi gestalteten Heft kehrt der verdreht-perverse Dipperz der frühen Geschichten zurück. Dipperz gelingt es, die Frau wieder zum Leben zu erwecken, andererseits sorgt er sich, dass sie nach der Reanimation nicht mehr so vital wie zuvor ist. Dieses schattenhafte an ihr wiederum ermöglicht Dipperz aber, sie in den Arm zu nehmen, zu umgarnen, zu verführen; endlich hat er die Frau seines Lebens gefunden. Dennoch sorgt ihn der mangelnde Lebensmut seiner nun so willigen Gespielin, deshalb sucht er Rat bei einer Parapsychologin, die ihn überzeugt, dass er sich von Cora lösen und sie ein zweites Mal sterben lassen muss, denn sonst wird Cora auf ewig der Übertritt ins Jenseits verwehrt bleiben. Max Dipperz beschließt, Cora zu erlösen, sein Herz aber ist danach gebrochen. So endet die erstaunliche Saga des Extremchirurgen Dipperz.

Man kann Holger Nüssles Heft auch als eine Art Blockbuster-Version von Dipperz sehen, denn zum ersten Mal wurde ein Heft in Farbe gestaltet, zudem legt Holger Nüssle viel Wert auf ausgefeilte Seitenkompositionen. Keine Panelanordnung gleicht der anderen, zudem gibt es viele sehenswerte großformatige Splash-Panels, die durchaus auch als gerahmtes Einzelbild an der Wand Wirkung erzielen könnten. Dennoch sind die Psychologie und die Charakterisierung wieder überzeugend geraten, auch wenn der auf den letzten sechs Seiten herbeigeführte Twist haarsträubend ist. Trotzdem überzeugt das Szenario mit seinen politisierten Akteuren und dem SA-Szenario und die Reihe Dipperz endet auf hohem Niveau.

Zuletzt das Comic-Äquivalent zur großen Leinwand. Holger Nüssle überzeugt mit raffinierten Panel-Anordnungen.

Was bleibt!

Die Geschichten um Max Dipperz sind reizvoll, weil sie zwar geradlinig und vermeintlich eindeutig erzählt sind, dennoch aber nie offensichtlich ist, ob der geniale Chirurg mit seiner Fixierung auf den bösen Punkt im linken Bein nicht eine massive Schraube locker hat. Das zieht sich bis in die letzte Geschichte „1933: Cora“, in der der Dokter sich das amputierte linke Bein eines SA-Schergen selbst annäht, um wieder einen bösen Punkt zu bekommen – so erst bringt er es fertig, seine geliebte Cora zu erlösen. Einerseits wirkt dieses etwas schnoddrige Blockbuster-Finale zwar vergleichsweise krude und hirnrissig, andererseits bleibt selbst hier die Frage präsent, ob Dipperz‘ Ein- und Ausschalten des bösen Punkts nicht doch eigentlich Autosuggestion ist und Dipperz‘ vermeintliche Wissenschaft ein blinder Fleck monströsen Ausmaßes. Rochus Hahn hält diese und weitere Fragestellungen an seine Geschichten stets unbeantwortet, so dass ein faszinierender Schwebezustand entsteht. Gute Erzählungen erkennt man eben daran, dass sie nie alle Fragen beantworten. Das Ganze wird elegant flankiert durch eine stets plausibel wirkende historische Einordnung und einem Gefühl für regionale Szenerien.

Dipperz dürfte eine der besten Serien sein, die nur von wenigen gelesen wurden. Die Suche nach den alten Heften ist den Aufwand wert.

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