Dies ist der zweite und abschließende Teil einer näheren Betrachtung von Grant Morrisons Serie The Invisibles, die von 1994 bis 2000 bei DC-Vertigo erschien. Zu Teil 1 geht es hier.
A sergeant and major, a corporal, Lieutenant,
Titles and positions were all invented. – Grandmaster Melle Mel
You who are so good with words
And at keeping things vague. – Joan Baez [1]
The Warriors on the edge of time
In Our sentence is up, dem Invisibles-Kompendium von 2010, befindet sich ein langes Interview mit Grant Morrison, in dem er über seine Jugend erzählt und über seinen Vater, der während des Zweiten Weltkriegs in der britischen Armee gedient hat und unter anderem in Indien stationiert war.
„[My father] was sent to India, and the first day he got there, he was taken out with all the other new recruits and the new troops. Basically, the commanding officer said, ‚Ok, here you are in India, boys. Those kids, those women, anybody you want here, you can have them. You can do anything you want here, you can have them. You can do anything you want. There is no law, enjoy yourselves.‘ And my dad attacked the guy because he thought, ‚This wasn’t what I came here to defend, just exploiting people‘. So he was a very aware kind of man, and he fought in the war, but he said, basically, in those days, it was chaos. We don’t really remember: they all thought the world was going to end, people were going berserk, a lot of people fighting one another. They didn’t know if Hitler was going to win, if they were ever going to survive. And obviously, in hindsight, we know what happened, so it’s easier to try and frame it as a narrative. But he says, at the time, the narrative was of complete chaos. People were shagging one another in different parts of the world. British women were getting off with American soldiers. British soldiers were getting off with Indian women or women in France. It was a chaotic, highly erotically-charged situation that he describes.“[2]
Auch die Invisibles befinden sich im ständigen Kriegszustand mit der Welt und auch ihre Lebensumstände sind erotisch unheimlich aufgeladen. Es ist bereits an der Kleidung der Kernfiguren des Teams, King Mob und Lord Fanny, leicht zu erkennen, dass diese Figuren im Grunde übersexualisiert sind.
Lord Fanny, die Drag Queen mit magischen Fähigkeiten, hat eine tragische, gleichzeitig aber sehr interessante Biografie: Als einziges Kind in einem Clan aztekischer Hexen geboren, die weiblich sein müssen, um die Tradition der Zauberei fortsetzen zu können, wurde er, obwohl männlich, als Mädchen erzogen und auf eine Initiationsreise zu aztekischen Göttern geschickt.
Trotz einer erfolgreichen Initiation, die ihn zum Freund der Götter werden lässt, wird Fanny auf Grund seiner unklaren sexuellen Identität aus der Bahn geworfen. Er prostituiert sich und nimmt Drogen, bis er, von seinem bisherigen Leben schwer gezeichnet und an der Schwelle zum Tod, von den Invisibles aufgesucht wird, die Verwendung für ihn und seine Fähigkeiten haben. Bei ihnen wird er aufblühen zur schrillen Drag-Queen Lord Fanny, die mit ihrem Draht zum Totengott Mictlantecuhtli deutlich andere Akzente setzen kann als King Mob mit seinen profanen Waffen und seinem Zynismus.
Aber auch King Mob, Grant Morrisons Alter Ego, hat Sex-Appeal. Ursprünglich der SF-Autor Kirk Morrison, verlässt ihn seine Freundin Jacqui aufgrund seiner zunehmenden Radikalisierung. Fortan lebt er nach dem Motto Andreas Baaders: „Ficken und schießen ist ein Ding“; vielfach gepierct, kahlgeschoren und immer auf Coolness bedacht, lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass Töten für ihn eine Sache der Potenz ist. Diesen Killer in sich kann er aber aber abstreifen wie ein Hemd. Darunter liegt ein ebenso sagenhafter Liebhaber verborgen.
Interessanterweise hat King Mob, nachdem er die Fesseln seiner zivilen Identität abgestreift hat, nur noch Sex mit Frauen aus anderen Zeitepochen: einmal mit Edith Manning, einer modernen Frau aus den Zwanziger Jahren, die er – King Mob kann mithilfe einer raffinierten Meditationstechnik durch die Zeit reisen – während einer Zeitreise in die 20er Jahre kennenlernt, zum anderen mit Ragged Robin, dem Mädchen aus der Zukunft.
Grant Morrison inszeniert stets aufs Neue die Wunschvorstellung, dass man die Umstände und Hindernisse, die einen binden, abstreifen und für immer hinter sich lassen kann. Es ist ein wichtiges Thema der Serie, dass man die Fesseln von Kultur, von Beruf, festen Partnern und offensichtlich sogar der Zeit, in die man hineingeboren wurde, ablegen muss, um frei werden zu können.
Das Spiel mit Identitäten
Die Sache mit den Zeitreisen ist ein Kernelement der Serie. Von Anfang an kehrt wie ein Mantra die Aussage wieder, dass Zeit und die von uns wahrgenommene Realität eine Illusion ist, die den Menschen an seinen Kontext bindet. Der eigentliche Mensch ist durch Kultur und Sprache versklavt. Wer aber das Prinzip der Konstruktion durchschaut, kann sich dieser Fesseln entledigen, wie es die Invisibles vorleben. Ein echter Invisible kann, sobald er diese Fesseln abgelegt hat, jede Identität annehmen und diese dann tragen wie einen Anzug.
Mr Malkie beispielsweise, der Lehrer, den Dane McGowan zum Anfang der Geschichte zusammenschlägt, ist tatsächlich ebenfalls „invisible“. In einer weiteren Identität ist er der Doppelagent Mr Six, der sich selbstsicher in beiden Lagern des Verschwörungsszenarios bewegt. Er schlüpft derart selbstverständlich von einer Identität in die nächste, dass der jeweilige Kontext ihn nicht mehr berührt. Anders als King Mob berührt ihn der Krieg kaum noch, so dass er bereits von außen auf den Konflikt zwischen den Mächten der Ordnung und des Chaos blickt.
Anstelle eines wahren Lebens kreieren die Figuren Scheinidentitäten ihrer selbst, die einerseits unter Verhörmethoden als Schutzfunktion dienen können, andererseits aber so elaboriert sind, dass am Ende unklar ist, welche Realität tatsächlich die richtige ist – falls es so etwas wie eine verbindliche Realität überhaupt noch gibt. Grant Morrison reißt mit diesen Figuren die Schranken zwischen Fiktion und Realität ein, indem er die Realität zur Fiktion und die Fiktion zur jeweils gültigen Realität erklärt.
Morrison hat dieses Versteckspiel in abgeschwächter Form als Kind selbst erlebt. Sein Vater engagierte sich nach dem Krieg als Aktivist gegen Kernenergie und wurde als Kind von seinen Eltern instrumentalisiert, um die Autoritäten zu täuschen.
„[T]here was a sense that the apocalypse could happen any moment, so my father and mother took it upon themselves to fight against this. As I said, I was kind of used as a decoy: my dad would go in, and he’d kick balls over fences, and we’d climb in, and he’d pretend that his son was looking for his ball, while he would take photographs of these underground nuclear bases. So I saw some really strange stuff when I was a kid. Prisoner style things, where you’d look down a long tunnel into a hillside and there’s little men in cars driving past. […] I think you can see influences of that in things like The Invisibles, the breaking into bases, the underground tunnels representing the unconscious.“[3]
Morrisons Vater hatte aufgrund seiner revolutionären Tätigkeit häufig Probleme mit dem Gesetz. Eines Tages, so erinnert sich Morrison, standen tatsächlich „Men in Black“ vor der Haustür und warnten seinen Vater:
„If you keep this up… we don’t mind young people doing it, ‚cause young people, students and people in their 20s, they’re going through a radical phase. That’s normal; we expect them to pass through that phase. […] You’re a 35 year old man with children. You’re a real danger to us. You’re an ex-soldier.“[4]
Diese „Männer in Schwarz“ gaben Morrisons Dad zu verstehen, dass sie ihn problemlos verschwinden lassen könnten, würde dieser mit seinen Aktionen weitermachen wie bisher. Kurze Zeit später, so Morrison, verschwand tatsächlich ein Freund seines Vaters, als wäre dies die letzte Warnung. Das alles ist schwer zu überprüfen und es ist die Geschichte eines Erzählers, der keinen Unterschied darin sieht, ob man von Aliens entführt wurde oder nur glaubt, entführt worden zu sein. Da Morrison ein sehr einnehmender Erzähler ist, würde ich ihm gerne glauben, frage mich aber, wie weit ich seiner Erinnerung vertrauen möchte.
A new dawn arising
The Invisibles ist eine Serie, die immer dann überzeugt, wenn sie die Wahrnehmung hinterfragt: Was bedeutet es, Mensch zu sein, und wieviel ist nötig, um Gewissheiten einzureißen, wenn diese nur Erzählungen sind, auf die sich eine Mehrheit geeinigt hat? Im Grunde ist dieser Ansatz surrealistisch: Die Figuren entziehen sich der wahrnehmbaren Welt und setzen sie mit den Mitteln der Suggestionskraft der Sprache einfach neu wieder zusammen.
Problematisch wird die Serie allerdings, sobald Morrison den unsicheren Grund des Vagen verlässt und eine konkrete Utopie entwirft. Gemäß dieser Utopie muss eine kritische Masse von Menschen von den Zwängen ihrer repressiven Erziehung befreit sein und ebenfalls invisible werden, damit die Menschheit sich für immer in der guten Seite des Universums auflösen und so dem dunklen Einfluss der repressiven Outer Church für immer entziehen kann. Aus diesem Grund holt der zeitreisende King Mob den Marquis de Sade aus dem 18. Jahrhundert in die Jetztzeit, damit dieser eine Utopie der sexuellen Freizügigkeit gestalten und somit den Menschen helfen kann, ihre Ängste und Zwänge hinter sich zu lassen. Mithilfe der unendlichen Ressourcen eines Milliardärs kreiert der Marquis alsbald eine Art Google-Imperium der anderen Art, in dem auch die dunkelsten Begierden erforscht werden, unter anderem mithilfe einer Gruppe furchtloser Freiwilliger, die sich der Erforschung der dunklen, kranken Seite des Universums widmen und sich und ihre Seele damit bewusst infizieren. Sie „wälzen sich im archetypischen Dung des menschlichen Unterbewusstseins und entwerfen so eine Landkarte der Hölle, um den Rest von uns sicher durch das Dunkel zu führen.“ Das ist auf eine morbide Art und Weise durchaus poetisch, und Morrison hat in The Invisibles meist Künstler an der Hand, die das ansprechend inszenieren können.
Morrison ist besessen vom Gedanken, das Böse im Menschen zu erforschen und hat dieses auch in seiner derzeit neuesten Serie, dem 2015 bei Image gestarteten Nameless, wieder zum Thema gemacht. Leider tritt er – 15 Jahre sind seit den Invisibles vergangen – thematisch seither ziemlich auf der Stelle und es ist zu befürchten, dass ihm die Poesie inzwischen abhanden gekommen ist. Folgende Äußerung von Morrison und seinem Zeichner Chris Burnham zur neuen Serie gibt ziemlich gut die Programmatik der neuen Serie wider:
He’s also been doing a lot of „strange“ research, too, reading up on weird occult practices, Satanism and „the darkest stuff we could get,“ Morrison says. Thankfully, he has an escape if he gets too creeped out — the writer’s currently penning an all-ages sci-fi animated film as well. „I can go right over there and back to the screenplay, and suddenly I’m in the world of dancing prairie dogs,“ Morrison says with a laugh. „A really good piece of art captures a mood, and (Nameless is) capturing the darkest possible mood but also making it entertaining and exciting.“He’s also made sure to spread the weirdness before it reaches his fan base. „Grant is definitely leading me down a crazy labyrinth of rabbit holes. There is some really unsettling stuff out there. And I’m always looking for the most horrific stuff the internet has to offer,“ Burnham says. „I think we’ve successfully deranged our minds enough that we’ll be able to freak you out.“[5]
Auch wenn Morrison sagt, dass die Beschäftigung mit jugendfreundlicher Science Fiction ein Ventil für ihn ist, so irritiert dennoch die Äußerung seines Mitarbeiters Burnham, man beschäftige sich momentan mit dem Übelsten, das das Internet zu bieten hat. Man möchte nur hoffen, dass die beiden Künstler kokettieren. Zudem stilisieren sie sich recht deutlich als diejenigen, die sich, wie oben bereits erwähnt, im „Dung“ wälzen, um den Rest der Menschheit „durchs Dunkel zu geleiten“ – am Ende ist es doch nur wieder schnöde Pornografie. Ist das der Weg ins Licht?
Grant Morrisons The Invisibles möchte gerne die finale Utopie sein, „the utopia to end all utopias“. Immer wieder steht sich Morrison mit seinen großen Entwürfen aber selbst im Weg. So wird beispielsweise immer wieder postuliert, dass der Kampf ein Irrweg sei und dass die Invisibles und ihre Gegenspieler im Grunde identisch sind. Warum also kämpfen? Diese berechtigte Frage wird immer wieder aufgeworfen, dennoch erscheint der Kampf zum Schluss notwendig und gerechtfertigt, womit der Comic am Ende seiner interessantesten Fragestellung widerspricht. Auch die Auflösung des Selbst und die Konstruktion von (Schein-) Identitäten ist grundsätzlich ein interessanter Denkansatz, den Grant Morrison immer wieder aufs Neue fesselnd inszeniert, aber bei den Invisibles hat diese interessante Philosophie einen totalitären Beigeschmack. Immer wieder ist Gewalt und Gehirnwäsche nötig, um Personen von ihren Persönlichkeiten zu „befreien“.
So findet sich ein Doppelagent scheinbar in einem brennenden „Wicker Man“ wieder. Tatsächlich wird ihm die Gewissheit, grausam sterben zu müssen, allerdings nur mittels einer Psychodroge vorgegaukelt, die das Gehirn dahingehend manipuliert, dass es jedes gelesene Wort als konkrete Tatsache wahrnimmt. „You’ve found what you were looking for“, kommentiert King Mob die Szene. „It’s what’s left when everything you think you are is burned away. Nobody’s really alive until they’ve died.“[6]
Aus diesem Zitat spricht nicht nur King Mobs lakonischer Zynismus. Es ist ganz offensichtlich die Vision der Invisibles, dass der ganze kulturelle Ballast der Menschheit zerstört werden muss, bevor die Menschheit bereit ist für den Superkontext (vulgo: Die Erlösung).
Dieser Superkontext, und das soll der letzte Kritikpunkt sein, ist zudem eine ziemlich anthropozentrische Vision. Jedes Flugzeug, jedes Kraftwerk und jeder andere Zivilisationsmüll soll tatsächlich Teil dieser zwangsläufigen Entwicklung zur Höheren Daseinsform gewesen sein. Der Mensch selbst war entsprechend niemals von der Natur entfremdet, stattdessen sind sämtliche Perversionen der Menschheit nur Chiffren für die Geburtswehen, die die Welt und der Mensch durchleidet, bevor er endlich zu dem astralen Wesen wird, für das er schon immer bestimmt war. Am Ende steht man als Leser ziemlich verwirrt da und überlegt sich, ob überhaupt so etwas wie eine Handlung nötig war, um dahin zu gelangen. Hätten sonst die Bösen gewonnen? Morrsions Philosophie erscheint mir zu diesem Zeitpunkt bereits so abgehoben, dass mich diese Frage nicht mehr interessiert.
Wie ich es verstehe, hat sich Grant Morrison mit dieser Vision einer Verwandlung der Welt ein tröstendes Modell gebaut, dass den zerrütteten Zustand der tatsächlichen Welt erträglich erscheinen lässt. So wie ein Verschwörungstheoretiker dem Sinnlosen Bedeutung verleiht, indem er die vermeintlichen Hintergründe durchschaut, verleiht Grant Morrison dem Bösen und Unerträglichen dieser Welt Bedeutung, indem er es als unvermeidliche Geburtswehen erklärt, die durchlaufen werden müssen, bevor man frei und tatsächlich glücklich sein kann. Alles in allem entwirft Morrison eine apokalyptische Ersatzreligion, die sich mehr als einmal christlicher Symbolik bedient. Oder findet sich die Aufhebung der Schranken zwischen Wort und Welt nicht bereits in der Schöpfungsgeschichte? Und verwandelt sich nicht in jedem Abendmahl die Hostie und der Wein in das Fleisch und das Blut Jesu Christi? Man muss es nur glauben.
Grant Morrison will uns außerdem weismachen, dass die Menschheit nur ein reduziertes Alphabet kennt, während den Mächtigen, die uns kontrollieren, die komplette Sprache mit 64 Zeichen zur Verfügung steht. Damit ignoriert er, dass die Missverständnisse dieser Welt erst durch die Abstraktion durch Sprache entstehen. Die Idee, dass mehr Sprache für weniger Missverständnisse sorgt, erscheint absurd.
Als Utopie mag The Invisibles uninteressant und ärgerlich sein, als Psychogramm ihres Autors ist die Serie allerdings ziemlich interessant. Wie bereits im ersten Teil erwähnt, bildet die Reihe seelische Zustände ab und kann dem Leser durchaus als Spiegel dienen. Grant Morrisons Stärke liegt darin, Rätsel zu formulieren, seine Antworten sind dagegen oft weniger überzeugend. Solange der Plot offen und alles möglich ist, ist die Reihe über weite Strecken außerordentlich fesselnd. Gegen Ende der Serie allerdings, als die Welt der Invisbles sich mehr und mehr zu einem hermetischen System entwickelt, hört das Vergnügen auf. Grant Morrisons Ablehnung sämtlicher etablierter Kultur wirkt nihilistisch und ignorant. Am Ende zerfranst Morrisons Utopie in einer unausgegorenen Melange aus Okkultismus, Nihilismus und Eskapismus, in der die Aktionen der Protagonisten allzu oft ähnlich verabscheuungswürdig wirken wie die Handlungen der Gegenseite, nur dass Morrison und seine Helden uns erzählen, dass am Ende alles gut wird. Als kritischer Leser nimmt man ihnen das nicht mehr ab, nur der unkritische Konsument wird bis zuletzt an den Lippen des Autors hängen.
Fußnoten:
[1] Das Zitat ist aus dem Joan-Baez-Song „Diamonds and Rust“. Bei der Coverversion von Judas Priest lautet die Zeile etwas abgewandelt „You were so good with words and at keeping things vague“, was fast noch etwas besser auf Grant Morrison zutrifft. Solange er surreal und vage bleibt, sind seine Geschichten sehr anregend. Gegen Ende hin schreibt er aber mit mehr und mehr Sendungsbewusstsein, was der Erzählung schadet.
[2]Meaney, S. 336: „[Mein Vater] wurde nach Indien geschickt. Schon am ersten Tag wurden er und all die anderen Neuankömmlinge im Dienst vom Truppenkommandanten zur Seite gezogen. Der sagte ihnen, ‚Kameraden, jetzt seid ihr in Indien. Die Kids da draußen, die Frauen, alles was ihr wollt, ihr braucht sie euch nur zu nehmen. Macht was ihr wollt, es gibt kein Gesetz hier. Amüsiert euch.‘ Mein Vater griff diesen Kerl an, denn er dachte, um Menschen auszubeuten bin ich nicht hierhergekommen. Er war ein sehr gedankenvoller Mensch. Er kämpfte im Krieg und erzählte hinterher, welches Chaos in jenen Tagen herrschte. Wir erinnern uns daran nicht mehr wirklich, aber damals glaubten die Menschen, dass dies das Ende sei. Die Menschen drehten durch und gingen aufeinander los. Sie fragten sich, ob nicht Hitler am Ende gewinnen würde und ob sie das überleben würden. Im Nachhinein wissen wir, was passiert ist, deshalb können wir es als große Erzählung sehen. Damals gab es keine Erzählung, nur das pure Chaos. Die Menschen bumsten quer über die ganze Welt, als gäbe es kein Morgen. Britische Frauen brannten mit amerikanischen GIs durch, britische Soldaten mit Inderinnen und Französinnen. Mein Vater beschreibt diese Zeit zugleich als chaotisch und als erotisch höchst aufgeladen.“
[3] Meaney, S. 337: „Da war dieses Gefühl in der Luft, dass die Apokalypse jeden Moment stattfinden könnte, also beschlossen meine Eltern, etwas dagegen zu unternehmen. Wenn sie mit mir unterwegs waren, konnten sie ihre wahren Absichten verbergen. Mein Dad schoss in der Regel einen Ball über den Zaun, dann gingen wir rein – natürlich nur, weil der Bub seinen Ball wieder haben wollte. Währenddessen fotografierte er die unterirdischen Nuklearanlagen. Als Kind bekam ich damals wirklich seltsame Dinge zu sehen, etwa wie in The Prisoner. Du stehst auf einem Hügel und blickst in einen langen Tunnel und am Ende fahren kleine Männchen mit Fahrzeugen. […] Diese Erfahrungen habe ich immer wieder in meine Erzählungen einfließen lassen, das Einbrechen in Stützpunkte, unterirdische Tunnels, die stellvertretend für das Unterbewusste stehen.“
[4] Meaney, S. 338: „Wenn Sie so weitermachen, dann … Wissen Sie, wir haben kein Problem mit radikalen jungen Menschen. Junge Menschen, Studenten, 20 bis 30 Jahre alt, von ihnen erwarten wir, dass sie ihre radikale Phase haben, das ist völlig normal. […] Sie aber sind 35 Jahre alt und haben Kinder. Sie sind gefährlich. Sie sind ein ehemaliger Soldat.“
[5] Tuitt: Morrison erzählt uns, er habe ebenfalls schon das „Absonderliche“ erforscht und über okkulte Praktiken und Satanismus gelesen, dem „finstersten Zeug, das zu finden war“, wie er sagt. Glücklicherweise hat er ein Ventil, wenn es ihm zu sehr zusetzt – der Autor entwirft derzeit auch einen animierten Science-Fiction-Film für alle Altersgruppen. „Ich kann dorthin jederzeit zurückkehren und finde mich in dieser Welt der tanzenden Präriehunde wieder,“ erwähnt Morrison lachend. „Wirklich gute Kunst fängt eine Stimmung ein, und Nameless hat die finsterste Stimmung, die man sich vorstellen kann, bleibt dabei aber trotzdem unterhaltsam.“ Er hat auch sein Umfeld mit diesen Verrücktheiten angesteckt, noch bevor er das Ergebnis auf seine Fans los lies. „Grant führt mich definitiv in ein schräges Labyrinth mit vielen Abzweigungen. Da findet sich wirklich viel aufwühlender Kram. Und ich bin immer auf der Suche nach dem Schlimmsten, was das Internet zu bieten hat,“ erzählt uns Burnham. „Ich denke, dass wir inzwischen gestört genug sind, um euch wirklich Angst einzujagen.“
[6] The Invisbles Vol. 3, Nr. 10: „Du hast gefunden, was du gesucht hast“, kommentiert King Mob die Szene. „Es ist das, was übrig bleibt, wenn der Rest von dem, was du glaubst zu sein, weggebrannt wird. Keiner lebt wirklich, bevor er nicht stirbt.“
Literatur:
Morrison, Grant (2011): Supergods, Spiegel & Grau, New York.
Deutsche Ausgabe: Superhelden: Was wir Menschen von Superman, Batman, Wonder Woman & Co lernen können, Hannibal Verlag, Innsbruck.
Morrison, Grant u.a. (1994 bis 2000): The Invisibles Vol. 1 (1 – 25), Vol. 2 (1 – 22), Vol. 3 (12 – 1) (sic.). DC Comics/Vertigo, New York.
Deutsche Ausgabe: Die ersten 25 Hefte erschienen in zwei Bänden als Invisibles Monster Edition, 2008, Panini Verlag, Stuttgart.
Morrison, Grant u.a. (1995): Hexy in Absolute Vertigo. DC Comics/Vertigo, New York.
Meaney, Patrick (2010): Our Sentence is Up: Seeing Grant Morrison‘s The Invisibles. Sequart, Illinois
Neighley, Patrick; Kereth Cowe-Spigai (2001): Anarchy for the Masses – An Underground Guide to The Invisibles. Mad Yak Press, Canada
Tuitt, Brian: Morrison, Burnham reteam for scary ‚Nameless‘ horror. USA Today.
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