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Währenddessen… (KW 37)

War The Dreaming nur eine diffuse Spin-Off-Serie mit viel zu viel Sandman-Fan-Service? Oder konnte die Serie nicht vielleicht doch ein bisschen mehr?

Heute soll die Rede sein von den The Dreaming-Heften 18 bis 44 (von 60). 25 Jahre sind diese Vertigo-Hefte alt, die ich derzeit zum ersten Mal lese, es waren bessere, unschuldigere Zeiten: Neil Gaiman war damals schon den Comics weitgehend entrückt und schwebte die meiste Zeit als kreativer Berater über den diversen Sandman-Spin-off-Serien, während er gerade als Autor durch die Decke ging.

Die Serie The Dreaming war als Konzept diffus und das Versprechen, dass in so einem Universum alles möglich sein könne, entpuppte sich schnell als bloße Behauptung. Meistens handelte es sich um Fan-Service, alles drehte sich ständig nur um Cain und Abel, Lucien, Merv Pumpkinhead, Eva, Matthew the Raven und die sonstigen üblichen Verdächtigen, ewige Figuren, die das Menschlich-Allzumenschliche ewig abbilden und spiegeln. Was hätte sich in diesem Universum je entwickeln sollen? Auch bei Vertigo-Comic sahen die Verantwortlichen (Alisa Kwitney, sicher auch Karen Berger, Shelly Roeberg, Neil Gaiman) die Notwendigkeit, dass etwas passieren musste und führten die irisch-amerikanische Autorin Caitlin Rebekah Kiernan ab Nr. 22 als ständige Autorin ein, anfangs noch im Wechsel mit Peter Hogan, später alleine.

Während Peter Hogan eher die üblichen Dreaming-Muster abspulte (und dabei immer einen routinierten Standard hielt), brachte Caitlin R. Kiernan zahlreiche neue Figuren in die Story ein und machte aus The Dreaming eine topmoderne Horrorstory, die mehr als nur einen leichten Clive Barker-Einschlag hatte. Cain und Abel traten weiterhin in ihrer Rolle als Hosts der Houses of Secrets and Mystery auf, aber sie bekamen eine lange nicht mehr gesehene Aura des Unheimlichen. Die Dreaming-Welt wirkte mit einem Mal von der Waking-World ähnlich verschoben wie Clive Barkers Zenobiten-Hölle aus den Hellraiser-Filmen. Dazu kam, dass sich Kiernan gerne – aber nicht nur – mit der Albtraumfigur Corinthian beschäftigte und sich einige Konsequenzen aus dessen Sandman-Storyline überlegt hatte. Sie führte Gabe ein, ein überlebendes Opfer des Corinthians, und Echo, dessen trans Begleiter (der trotz eindeutiger weiblicher Körpermerkmale stets als „he/him“ bezeichnet wird).

Gabe hat – wie der Corinthian – leere, hungrige Augenhöhlen, die regelmäßig mit Augen gefüttert werden müssen, also sind Echo und Gabe in Caitlin Kiernans erster Soryline „Souvenirs“ als Serienkillerpärchen unterwegs und begehen, bis sie vom neuen Corinthian gestoppt werden, bestialische Morde. Am Ende der Story wird dem Paar die Augen (!) darüber geöffnet, was sie eigentlich die ganze Zeit getan haben und ein erster schmerzhafter Prozess der Reflexion wird in Gang gesetzt. Dennoch haftet den Killern immer etwas raubtierhaftes an, als wäre es in der Natur des Killers, zu töten, was dann auch schon wieder an die durch und durch nihilistische Auflösung von Gaimans Geschichte „The Doll’s House“ erinnert, wenn gerade der pädophile Kindermörder Fun Land vom Sandman mit einer eigenartigen Mischung aus Zurückhaltung und Empathie behandelt wird. In der aktuellen Netflix-Fernsehserie ist das um einiges geglättet, weil Funland da nur vorübergehend getäuscht wird, dann aber doch für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. In den Sandman-Comics ist man als Leser dagegen selbst aufgefordert, für Fun Land die letzte Strafe mitzudenken (oder eben nicht). Immerhin gibt es die DC-Hölle ja auch noch (aber Gaiman entzieht sich geschickt solchen Verbindlichkeiten). Neil Gaiman liegt deutlich mehr daran, uns zu irritieren, als unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit zu bedienen. Gaiman war schon immer krass.  Und er kam mit Grenzüberschreitungen leichter durch als andere.

Caitlin R. Kiernan ist anfangs zwar ähnlich moralisch indifferent, sie entführt uns aber im Verlauf ihrer Storyline auf eine Heldenreise für die Figur Echo, die sich stetig weiterentwickeln darf. Caitlin Kiernans Figuren bewegen sich fast immer am Rand der Gesellschaft: Abenteurer, Grenzgänger des Okkulten, Figuren sexueller Uneindeutigkeit, Junkies, Kleinkriminelle und Obdachlose, gerne in Gothic-Fashion – das ist Caitlin Rebekha Kiernans Ding. Später, als Echo der Welt abhanden kommt und ins Dreaming übertritt, nimmt sie die Gestalt von Christina Weston an, einer Frau des späten 19. Jahrhunderts, eine Frau, in die der Bibliothekar Lucien dereinst schwer verliebt war, eine Kartenlegerin, die den Absinth mochte und selbstredend mit Oscar Wilde befreundet war – so viel Treue zum Milieu darf man schon erwarten. Aber mit derlei Nebengeschichten findet Caitlin R. Kiernan mehr und mehr aus Neil Gaimans Fußstapfen heraus und entwickelt eine eigene, interessante Handschrift. Die erinnert stark an Clive Barker, im Verlauf ihrer Story finden sich aber auch immer wider – eher zufällige – Parallelen zu den Stories aus dem Buffy-Universe, wo ja auch immer wieder bei aller Leichtigkeit auch oft sehr schwere, manchmal dick aufgetragene Geschichten von moralischer Läuterung erzählt werden.

Das Artwork der Dreaming-Stories dieser Phase ist immer wieder hochkarätig: Al Williamson, Marc Hempel und John Totleben gelingt es, trotz Kiernans überwältigender Sprache, auch visuell Akzente zu setzen. Auch Jamie Tolagsons Ausgabe, ein eher unbekannter Künstler, überzeugt in einem Stil, der sich irgendwo zwischen Teddy Kristiansen und George Pratt gut einordnen lässt. Ab dem Zeitpunkt, wo die Storyline deutlich an Moment gewinnt, übernimmt – fast ohne weitere Unterbrechungen – Christian Hojgaard für sehr viele Hefte den Zeichenstift, ein Künstler, der sich sehr dem Plot unterordnet und kaum Akzente setzt. Das Artwork wird ab diesem Zeitpunkt langweiliger, womit der Caitlin Kiernans blumig-überbordender Prosa gegen Ende leider das ästhetische Gegengewicht fehlt. Das Artwork, das am besten mit ihren Texten korrespondiert, ist meiner Meinung nach Dean Ormstons Arbeit für die Spin-Off-Serie The Girl who would be death, ein Vierteiler, auf den in The Dreaming intensiv Bezug genommen wird.

Caitlin R. Kiernans Einstand in die Sandman-Welt, der ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Engagement für The Dreaming einbrachte, war eine Short Story im 1996 erschienenen Sandman-Fan-Fiction-Buch The Sandman Book of Dreams, für das sie eine Kurzgeschichte zu Wanda, der Transgender-Figur aus „A Game of You“ beitrug. Fast schon etwas zu kunstvoll-wortgewaltig, lyrisch aber sehr überzeugend, ist ihr Beitrag ein sehr kraftvoller Beweis dafür, wie inspirierend die Sandman-Comics für viele junge Leute der 1990er-Jahre gewesen sein mussten. Das kann man auch heute, angesichts der Missbrauchs-Anschuldigungen gegenüber Neil Gaiman weder leugnen noch weglächeln. Besser man akzeptiert die bleibende inspirierende Kraft der Geschichten von damals. Besser man akzeptiert, dass auch das, worin wir das meiste Potential sehen, uns manchmal doch tief enttäuscht. In den 1990ern waren viel mehr Wege offen, als jetzt 2024 übrig geblieben sind.

Dean Ormston und Caitlin R. Kiernan, The Girl who would be death (1998). (c) DC-Vertigo.

Oh well, things crumbe to an end. Hell, we all die in the end. – Dead Kennedys

Weitere Texte zu The Dreaming:
The Dreaming – Wo Sandman und Topolino sich Gutenacht sagen – Comicgate
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