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Währenddessen… (KW 36)

Je suis Karl, ein Film von 2021, ist nur ganz kurz im Kino gelaufen. Christian findet, der Film verdient mehr Aufmerksamkeit.

Christian: In den letzten Tagen habe ich eine nicht unerhebliche Begeisterung für Christian Schwochows Film Je suis Karl entwickelt. Der Film ist nicht unumstritten, die Kritiken, die sich von damals im Netz finden lassen, sind zum Teil wenig gnädig.

Bei Zeit online generiert der Kritiker Thomas E. Schmidt den Eindruck, als würde schon die Tatsache, dass hier „mit ganz viel öffentlichem Fördergeld“ gedreht wurde, die Integrität beschädigen, Hanna Pilarczyk von Spiegel Online meint, der Film wolle mit „gnadenloser Plattheit und fahrlässiger Ungenauigkeit“ rechte Kräfte wie die Identitäre Bewegung entlarven und stellt die Frage ob es „wirklich ein Publikum [gibt], dem man so dumm kommen muss?“ Simon Rayß vom Tagesspiegel findet den Film diffus und didaktisch – vor allem diffus, weil in Je suis Karl die Strahlkraft der neurechten Szene eigentlich zu verführerisch dargestellt sei. Greifbar werde die politische Ausrichtung des neurechten Milieus in diesem Film nur dann, wenn es karikaturhaft überzeichnet sei.

Zur Handlung: Die Mutter und die beiden kleinen Geschwister der jungen Frau Maxi Baier werden Opfer eines Bombenanschlags. Ihr Vater Alex hatte ein Paket, angeblich für den Nachbarn, entgegengenommen und in seiner Wohnung abgestellt, das Paket enthielt eine Bombe mit hoher Sprengwirkung, das komplette Mehrparteienhaus wurde quasi weggerissen. Sehr schnell ist der Verdacht eines islamistischen Anschlags in der Luft. Zwar werden viele Gegenbekundungen gegeben („Terror hat keine Religion“ o.ä.), trotzdem bleibt die Angst vor islamistischen Terror bestehen und Maxi begegnet arabisch aussehenden Menschen von nun an mit Misstrauen – und das, obwohl ihr Vater Alex und die Mutter früher selbst als Fluchthelfer tätig waren. Ob die Familie dadurch zum Ziel des Anschlags wurde, lässt der Film im Unklaren. Von nun an muss sich Maxi Reportern erwehren, die sie immer wieder auf der Straße abpassen. Dabei erhält sie unerwartet Unterstützung von einem gutaussehenden jungen Mann namens Karl, der Maxis Sorgen ernst nimmt und sie für die rechtsidentitäre Jugendbewegung „Re/Generation“ begeistern kann.

Eine erzählerische Rückblende macht schnell deutlich, was man erst mal nicht mal glauben würde, wenn es nur erzählt würde: Karl selbst war der Bombenleger. Mit Bart und Kontaktlinsen hatte er sich dabei etwas sehr simpel auf arabisch geschminkt. Karl ist ein Strippenzieher durch und durch und er wird im Verlauf der Handlung einen monströsen Plan umsetzen, um den Tag X, den Tag der rechtsextremen Machtübernahme, in Gang zu setzen. Dabei strapaziert es die Glaubwürdigkeit, wenn Karl hier wie ein Superschurke die Fäden zieht und die Menschen seiner Umgebung manipuliert. Ist Je suis Karl vielleicht doch nur ein dystopischer Thriller?

Hanna Pilarczyk von Spiegel Online kreidet dem Film an, dass in ihm gerade weiße Normalos dem rechten Terror anheimfallen, während es aber in Wirklichkeit doch „Menschen mit Migrationsgeschichte (oder wen Rechtsradikale auch immer dafür halten)“ träfe, „Jüdinnen und Juden, Linke und Antifaschistinnen“:

„Doch irgendwie scheint in der deutschen Kinobranche die Fiktion vorzuherrschen, dass es ein Publikum gibt, dem man so dumm kommen muss – das von Ambivalenzen überfordert ist und sich in nicht weißen, nicht christlichen Menschen partout nicht wiedererkennen kann. Für diese fiktiven Zuschauerinnen und Zuschauer ist »Je suis Karl« sicherlich der richtige Film.“

Soweit die eine Hälfte des Spannungsfelds. Die andere Hälfte, geäußert in einer Amazon-Rezension, räumt ins Feld, dass islamistischer Terror in der Regel nicht von Rechtsterroristen inszeniert wird, sondern eben von Islamisten. Was also will uns Je suis Karl eigentlich erzählen?

Vielleicht dieses: Islamistischer Terror bleibt vom Film wohlwissentlich ausgeklammert, um sich ganz auf das Phänomen der identitären Bewegung zu fokussieren. Das ist einerseits unterkomplex, funktioniert aber großartig als zugespitzte Provokation, denn islamistischer Terror ist fürs rechtsextreme Milieu nie nur eine Tragödie, sondern immer auch Bestätigung und willkommene Propaganda. Je suis Karl ist großartig darin, nicht nur die – sehr verführerisch inszenierte – Strahlkraft einer (fiktiven) identitären Bewegung zu zeigen, die sich jugendlich, hip, gutaussehend, partyfreudig und queeroffen gibt, der Film zeichnet auch gut eine übereuropäische Vernetzung von rechtsextremen Ideologen auf, die nur auf den Tag X warten. Aber erinnern wir uns nur an die rechtsextremen Übergriffe in England dieses Jahr, wo einige wenige Halbwahrheiten auf Social Media als willkommener Auslöser ausreichten. Regisseur Schwochow dagegen verweist in einem Interview auf den Fall eines ehemaligen Bundeswehrsoldaten, der sich vor einigen Jahren mit einer Fake-Identität unter Flüchtlinge geschleust hatte, offensichtlich mit dem Plan, ein Attentat zu verüben. False-flag-Terror ist durchaus denkbar. Auch Verschwörungen sind denkbar.

Die Dämonisierung Karls ist problematisch, weil sie das „Bösartige“ eines identitären Aktivisten vom Drehbuch her erst herbeiredet. Es benötigt nur wenig Medienkompetenz, um sich hier manipuliert zu fühlen, womit der Film Gefahr läuft, Sympathien für die Identitäre Bewegung vielleicht sogar erst zu generieren. Es ist immer besser, dem Publikum selbst die essentiellen Schlussfolgerungen und Bewertungen zu überlassen. Gerade, wenn es um etwas geht.

Im Podcast Projektionen/Kinogespräche („Jugend, Extremismus, Film“ vom 28.06.2024) vertreten Benjamin Johan und Marcus Stiglegger die Meinung, dass der Film Je suis Karl, dem sie wohlwollend gegenüberstehen, seinen Zuschauern keine Ambivalenz zumuten möchte und deswegen an jeder geeigneten Stelle deutlich macht, wie „böse“ nun Karl und seine Nazifreunde tatsächlich seien. Es ist ein klarer Fall von “Damned if you do, damned if you don’t”. Ist der Film durch seine konkrete Gut/Böse-Schematik erst ambivalent geworden? Oder hebt er mit der Gut/Böse-Schematik die Ambivalenz auf? Offensichtlich hat sich der Film gerade in seinem Bemühen um Eindeutigkeit in eine Sackgasse manövriert, die nur noch Widersprüche zulässt. Gerade dieses Widersprüchliche verleiht dem Film aber auch eine enorme Spannung und macht ihn unbedingt sehenswert. Interessant ist dabei auch, wie präzise der Film mit den Spielarten medialer Manipulation umzugehen weiß. Je suis Karl ist ein durch und durch kompetenter Film, der sein Thema auf ein sehr hohes Niveau trägt, bevor er am Ende fast zerschellt.

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