The Dreaming, die Spin-Off-Serie zu Neil Gaimans Sandman, begeistert genauso wie die Hauptserie. Bei hochkarätigen Autoren wie Bryan Talbot und Alisa Kwitney ist das auch kein Wunder.
Christian: Ein Jahr, nachdem Terry LaBan und Peter Snejbjerg mit der Story „The Goldie-Factor“ die Serie The Dreaming 1996 so wunderbar eröffnet haben, veröffentlichte Terry LaBan in den The Dreaming-Nummern 13 und 14 einen weiteren Zweiteiler. Diesmal hatte er die Künstlerin Jill Thompson an der Seite, um eine weitere Geschichte aus den Grenzbereichen zwischen Jenseits, Traumland und Wachwelt zu erzählen – man kann das gerne auch Twilight Zone nennen.
„Coyote’s Kiss“ fühlt sich an, wie die Episode einer klassischen Fernsehserie, die noch nicht den epischen Anspruch heutiger Serien hatte. Als würde man einschalten und sich 40 Minuten lang gut unterhalten lassen. Das ist viel weniger spektakulär als ein Kinofilm, aber auch angenehm unaufgeregt. Es ist einerseits nicht überraschend, dass nicht jede dieser Zwischendurch-Geschichten nachgedruckt wurde; schade ist es trotzdem, denn gerade Tiere gehen Jill Thompson wirklich gut von der Hand, und der kleine Konflikt zwischen Matthew, dem Raben, und dem Kojoten, der seinen Einfluss in der Traumsphäre ausbauen möchte. ist schön in Szene gesetzt. Matthew ist bei Jill Thompson echt ein Vogel mit Charakter.
Eine weitere Dreaming-Story, die nie eine Neuauflage erfahren hat, ist „Weird Romance“, ein Vierteiler von Bryan Talbot mit Zeichnungen von Dave Taylor (The Dreaming 9-12). „Weird Romance“ ist eine sehr gelungene Fantasy-Story, in der Talbot die Klischees kitschiger Liebesromane mit den Mechanismen des Dreaming verknüpft. Eine Frau namens Bridget liegt im Koma, ihr zukünftiger Ehemann Chris sitzt am Krankenbett und trauert, weil seine Lebensträume zerbrochen sind. Währenddessen durchlebt Bridget die angebahnte Hochzeit in immer neuen Varianten, und immer zerfällt die Szenerie nach einiger Zeit in scheinbar unzusammenhängende Traumbilder des Unbehagens. Mit der Zeit wird offensichtlich, dass Chris ein etwas ungehobelter Football-Player mit übersteigerten Macho-Idealen war, was wiederum Bridgets Zuneigung nur gesteigert hat, weil sie wiederum das Animalische an Chris in übersteigerten romantischen Vorstellungen verklärt.
Ein ideales Match also? Aber es gibt noch ein weiteres Love-Interest für Bridget, nämlich Jerry, den sensiblen Musiker. In Chris‘ Augen ist Jerry ein „Creep“ und auch für Bridget ist Jerry eher ein Anhängsel und vorübergend zweite Wahl. Jetzt aber ist Jerry im Dreaming unterwegs – wie er dort hingekommen ist, klärt sich im Lauf der Story – und versucht, Bridget doch noch auf seine Seite zu ziehen, während Chris in der Wachwelt sein Leben langsam auf die Reihe kriegt und dabei auf ein Lebenszeichen von Bridget wartet. Das ungleiche Duell ist von Bryan Talbot genial geplottet und bleibt bis zur Auflösung im vierten Teil überraschungsreich und spannend. In meinen Augen ist „Weird Romance“ eine der besten Erzählungen des Sandman-Kosmos und sollte unbedingt wiederentdeckt werden.
Als Reprint in den Paperback „Beyond the Shores of Night“ gingen neben „The Goldie Factor“ (Dreaming 1-3) noch die Stories „The Lost Boy“ von Paul Hogan und Steve Parkhouse (Nr. 4-7) ein, ebenso „His Brother’s Keeper“ (Dreaming 8) von Alisa Kwitney und Michael Zulli. „The Lost Boy“ ist eine weitere romantische Story im Twilight Zone-Gewand, hier verschlägt es in den 50er Jahren einen jungen Mann namens Brian Salmon, dessen Beziehung gerade in die Brüche geht, in den verzauberten Wald, in dem gerade die Feenwesen aus Shakespeares Sommernachtstraum ihr Unwesen treiben. Der Kontakt mit der Anderswelt bleibt für Brian nicht ohne Folgen, und weil der Wald zur Geisterstunde ein Ort außerhalb der Zeit ist, versetzt es ihn überraschend 50 Jahre in die Zukunft. Völlig orientierungslos trifft Brian dort auf Mad Hettie, die Obdachlose aus den Sandman-Comics, die ihn nach und nach wieder aufrichtet und ihm auch dabei hilft, sein Leben völlig neu auszurichten. Peter Hogan erzählt in „Lost Boy“ eine schöne Geschichte an der Peripherie der Sandman-Comics, in der einige Nebenfiguren der Hauptserie sehr stimmig weiterentwickelt werden, während das Traumland selbst dankenswerterweise keine allzu große Rolle spielt. Nicht dass dort keine großartigen Geschichten zu erzählen wären – aber die Gefahr ist doch sehr groß, dass sich das Konzept des Dreaming schnell abnutzen könnte.
In „His Brother’s Keeper“ – The Dreaming 8 – wird es biblisch-mythisch. Alisa Kwitney dringt tief in die Geschichte um Kain und Abel vor und konfrontiert das Brüderpaar mit dem dritten im Bunde, dem dritten Adamssohn Seth. Seth ist ja sozusagen der erste „Normale“, weil er weder ein Mörder noch das Opfer ist. Aber wäre Seth nicht ebenfalls wie Cain gewesen, wenn er an dessen Stelle gewesen wäre? Außerdem erweitert Alisa Kwitney die Kain/Abel-Story um einen Aspekt, der sich vor allem in der muslimischen Überlieferung der Story findet. Kain und Abel hatten nämlich – was kaum jemand weiß – je eine Zwillingsschwester.
Gott wollte, dass Cain Jumella, die Schwester von Abel heiratet, ebenso, dass Abel Kains Schwester Aclima bekommt – was wohl so weit vom Inzest weg ist, wie es bei einer bisher nur 6 Menschen zählenden Menschheit gerade noch möglich ist. Kain aber mochte Abels Schwester nicht – er fand sie „fett“ – und erbrachte deswegen ein Opfer vor Gott, dass er ihm gestatte, doch stattdessen seine eigene Zwillingsschwester Aclima zu nehmen. Gott aber sagt „Nein“ – und so geschieht der erste Brudermord auch aus Eifersucht. In der Bibel steht das alles nicht, daher ist die Story ein geeigneter Stoff für Cain, den Hausherren des House of Mystery. Oder ist es doch eher ein „Secret“, also Material für Abels Hoheit, schließlich ist er der Host des House of Secrets? Natürlich ist schon der Disput, was ein „Secret“, was ein „Mystery“ ist, Anlass genug für Cain, Abel zu töten. Dazugelernt wird grundsätzlich nicht.
Alisa Kwitney gelingt innerhalb von 24 Seiten viel: Sie bringt uns die fast vergessene Erzählung der Schwestern von Kain und Abel näher und legt ihren Figuren ganz nebenbei noch Sätze von sehr grundliegender Bedeutung in den Mund. So belehrt Cain Seth an einer Stelle, dass Nomadenvölker eher dem Monotheismus zugetan wären, da Gott den umherziehenden Nomaden auf ähnliche Weise ein Hirte ist wie der Mensch den Herdentieren. Der sesshafte Gärtner dagegen setzt sich den wiederkehrenden Jahreszeiten aus und ist daher eher heidnisch (oder besser: pagan) orientiert, da von zuverlässigen Naturmächten abhängig. Alias Kwitney gelingt es hier souverän, die Unvereinbarkeit des Brüderpaars noch grundsätzlicher abzubilden, repräsentiert Cain doch den ersten ziehenden Schafhirten und Abel den ersten sesshaften Ackerbauern. Es ist fast schon paradox, dass es gerade biblische Figuren sind, die hier den Raum für beides öffnen, die heidnische ebenso wie die christliche Lesart.
Zudem schreibt Alisa Kwitneys „His Brother’s Keeper“ hochgradig feministisch und stellt die Frage, weshalb die weiblichen Figuren der Cain und Abel-Erzählung in der Bibel fehlen. Im Verlauf der Story wird Cain von Jumella konkret zur Rede gestellt, der Verschmähten, die von Cain nach der Hochzeit weggesperrt wurde. Sie hat sich seither auf die vermeintlichen Idealmaße heruntergehungert, nur um Cain zu gefallen, der sie aber doch wieder nur verstößt. Michael Zulli hat Kwitneys schwere Story voll feministischer Wut in einem poetisch-realistischen Naturstil in Szene gesetzt, der ebenfalls dazu beiträgt, dass „His Brother’s Keeper“ zu den Höhepunkten der Serie gezählt werden kann.
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