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Währenddessen… (KW 12)

In der Kolumne „Währenddessen …“ zeigt die Comicgate-Redaktion, was sie sich diese Woche so zu Gemüte geführt hat.

„The cracks between the paving stones, look like rivers of flowing veins.“ (The Who, Mod-Kultband). Welcher Zusammenhang zwischen diesem Panel aus „Shade the changing Man“ und Flann O’Briens „The Third Policeman“ besteht, erfahren Sie am Ende des Artikels. (Shade the Changing Man 42, DC Vertigo 1994. Artwork von Chris Bachalo.)

Christian: Am Anfang von Flann O’Briens Roman Der Dritte Polizist steht ein kleiner Loser, der früh seine Eltern verliert, bald ein Holzbein bekommt und im weiteren Verlauf seines Lebens völlig unter dem Einfluss eines Schurken namens Mr Divney gerät. Der Erzähler, von dem man nie den Namen erfährt, ist nun kein Mensch, der gerne arbeitet; viel lieber studiert er die Lehren des Philosophen de Selby, der behauptet hat, menschliche Existenz sei nur eine Halluzination und die Nacht sei die Illusion, die entsteht, wenn schwarze Luft sich aufgrund unhygienischer Bedingungen im Laufe des Werktages verdichtet. Häufig findet man schwarze Luft auch in Kellern, in Verließen und unter Tage an.

Während die abstrusen Ideen de Selbys zunächst nur im Denken des Erzählers umhergeistern, werden auch dessen Erlebnisse zunehmend verrückter, nachdem er gemeinsam mit Divney ein abscheuliches Verbrechen begeht, um an eine Geldkassette zu gelangen. Aber egal wie nah der Erzähler dem Geld auch zu kommen scheint, immer entzieht es sich dem letzten Zugriff und er wird in eine surreale Situation hineingezogen, in der bald völlig andere Dinge wichtig sein werden, als er ursprünglich für möglich gehalten hätte. Zwei seltsame Polizisten, deren komplettes Denken von Fahrrädern beherrscht wird, die Begegnung mit seiner eigenen Seele und das Vergessen seines Namens sind nur einige der zahlreichen Dinge, mit denen er konfrontiert wird, als er sich auf der Suche nach dem Diebesgut auf einmal in einer seltsamen Landschaft wiederfindet, in der es nur eine Landstraße, einen Fluss, einen Wald und ein Polizeipräsidium zu geben scheint.

Der Dritte Polizist ist ein irres Buch. Man fragt sich als Leser auf nahezu jeder Seite, ob dies noch abstruser Unsinn ist, was man hier liest, oder doch vielleicht schon eine sehr tiefsinnige Beschreibung dessen, was das Menschsein in seinem Kern ausmacht. Es ist das richtige Buch für eine Zeit, in der das Vertraute wegbricht und das Leben, wie man es kannte, mit einem Mal zur Vorhölle wird. Auf einmal haben die Verrückten Recht und wissen, wie der Hase läuft. Sie arbeiten mit unsichtbaren Werkzeugen an Möbelstücken, die zu klein fürs menschliche Auge sind, sie beschäftigen sich so lange mit Gegenständen, bis sie sich selbst in diesen Gegenstand verwandeln – und im Gegenzug der Gegenstand in sie. Je abstruser eine Idee, desto wissenschaftlicher und sachlicher wird sie dargestellt, was 1940, dem Jahr als das Buch entstand (es erschien aber erst 1967), wohl auch als Parodie auf den Wissenschaftsbetrieb verstanden werden wollte.

Wenn einem die Welt zu viel wird, dann möchte man auch mal ein Fußboden sein. Aus „Shade the Changing Man 55“, DC Vertigo 1995. Artwork von Mark Buckingham, Text von Peter Milligan.

Ganz grob würde ich Der Dritte Polizist als Mischung zwischen Terry Pratchett und Franz Kafka einordnen, andere sehen noch Anteile von Alice im Wunderland mit eingerührt. Wenn ich den Roman lese, so entstehen vor meinem geistigen Auge Bilder im Stil von Das Narrenschiff von Turf, der einzige Comic, der in seiner Mischung aus Skurrilität und Steampunk der Atmosphäre von Der Dritte Polizist nahekommt. Aber auch Chris Bachalo und Mark Buckingham haben ähnliche Geschichten schon mit Bravour umgesetzt: Der von Peter Milligan geschriebene Shade the changing Man besitzt surrealer Elemente in ganz ähnlicher Vehemenz wie sie in Der Dritte Polizist vorkommen. Darin wird mit einem Mal völlig nachvollziehbar, dass sich jemand für ein Leben in einem kleinen Riss im Bürgersteig entscheidet oder sich in einen Fußboden verwandelt, um so in körperlichen Kontakt mit einer Tänzerin zu treten. Lese ich solche Geschichten, beschleicht mich das Gefühl, nur Surrealisten verstehen diese Welt wirklich.

Was habt ihr diese Woche gekauft, gesehen, gelesen, gespielt? Postet eure Bilder, Geschichten und Links einfach in die Kommentare.

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