Mit Holzbein und Harpune ist Lord Baltimore im Europa des frühen 20. Jahrhunderts unterwegs. Auf der Jagd nach seiner Nemesis, um bittere Rache zu nehmen. Die Titelfigur in Mike Mignolas und Christopher Goldens Comic ist damit eine klare Referenz an Moby Dick bzw. an Design und Motivation des Kapitän Ahab aus Herman Melvilles Roman. Baltimores „Weißer Wal“ heißt Haigus, ist ein hochrangiger Vampir und für den Tod der Familie des Lords verantwortlich.
Die an Moby Dick erinnerende Grundkonstellation ist ein gutes Beispiel dafür, wie Mignola und Golden mit Sinnbildern arbeiten und dafür literarische, phantastische und reale Vorlagen miteinander vermischen. Mindestens ebenso bedeutend wie das Motiv des Hauptprotagonisten und dessen Origin ist für die Comicreihe Baltimore der historische Kontext: Als Soldat im 1. Weltkrieg verlor Baltimore sein Bein und wurde im Schützengraben zum ersten Mal mit Vampiren konfrontiert. Während er zusehen musste, wie seinen Kameraden das Blut ausgesaugt wurde, konnte er das Schlachtfeld lebend verlassen, indem er eines der fledermausartigen Wesen verletzte. Tragischerweise sickerte das Blut von Haigus in die Erde und löste damit eine Seuche auf dem europäischen Kontinent aus; von den einen als Pest bezeichnet, von anderen als die Ausbreitung und das Wiedererwachen des Vampirismus erkannt.
Der schleichende Aufstieg des bösen Übernatürlichen geht hier also Hand in Hand mit dem grassierenden Weltkrieg, der den europäischen Kontinent in Atem hält. Im Jahr 1916 erleben wir Lord Baltimores ersten Einsatz als entschlossener Vampir-, Monster- und Dämonenjäger an der französischen Küste. Viele weitere in allerlei Ländern – von Deutschland über die Schweiz, bis in den Balkan – sollen folgen. Seine Gegner dabei: Zombies, Riesenkrabben, verrückte Priester. Doch im Hinterkopf bleibt stets Haigus, jener Vampir, der den Funken für Baltimores Rastlosigkeit überhaupt erst gezündet hat.
Mignolas und Goldens zentrale Figur ist ein Antiheld, ein Kämpfer, der allein gegen das überall lauernde Böse antritt und dabei doch nur seine persönliche Rache verfolgt. Das macht ihn zur tragischen Figur dieses Comics, zu einem Mann ohne Hoffnung und Zukunft. Seine Wurzeln liegen in dem von Golden verfassten und von Mignola illustrierten Roman Baltimore, oder Der Standhafte Zinnsoldat und der Vampir, der die Herkunft Baltimores bereits 2007 behandelte. Die Comicreihe greift diese Geschichte in Teilen auf, erweitert sie jedoch deutlich. Vorkenntnisse sind für die Lektüre des voluminösen Comicbuches nicht nötig.
Baltimore ist Teil des erweiterten „Mignolaverse“, weist also keine direkte Verbindung zum zentralen Hellboy/B.U.A.P.-Kosmos Mignolas auf (obwohl sich das stilistisch durchaus anbieten würde). Mit einer fast schon klassischen Pulp- bzw. Horrorfigur im Zentrum bedient sich Baltimore allerdings der gleichen Zutaten aus Action und Drama, aus historischen, mythologischen, literarischen Referenzen und kreativen Monsterdesigns.
Für die grafischen Inhalte ist der neuseeländische Zeichner Ben Stenbeck zuständig, der für Mignola bereits das Einzelheft B.U.A.P. – Der ektoplasmische Mann gezeichnet hat. Dessen Stil ist von klarer Natur, schnörkellos, wenig pompös. Die düstere Stimmung des Comics trifft er mit den nüchternen Bildern aber ganz gut. Baltimore ist schließlich keine Serie, die zuvorderst gehobenen Anspruch verspricht; dafür unterhält sie den Leser mit gut erzählten Horrorstories, packenden Kampfszenen und illustren Figuren. Gerade in der Breite gibt es hier den ein oder anderen reizvollen Nebencharakter kennenzulernen, der für den Plot ansonsten nur am Rande relevant ist.
Ein Highlight ist, wie immer bei den Comics aus der Feder Mignolas, der Blick in die Skizzenbücher, die auch in Baltimore nach jedem größerem Kapitel zum Abdruck kommen. Daneben darf man noch die Einzelcover bestaunen, die Vorworte lesen und sich ein exklusives Interview mit Ben Stenbeck zu Gemüte führen. Am Ende bildet der Ziegelstein aus dem Hause Cross Cult ein rundum gelungenes Leseerlebnis für mehrere Stunden (die deutsche Ausgabe enthält gleich vier komplette US-Sammelbände). Über weiteres Material zu Lord Baltimores Vampirjagd würde sich sicher niemand beschweren.
Schöner Horrorcomic im Mignola-Style, der noch ein Stückchen mehr auf Pulp-Unterhaltung setzt, als dies bei Hellboy und Co. der Fall ist
Cross Cult, 2015
Text: Mike Mignola, Christopher Golden
Zeichnungen: Ben Stenbeck
Übersetzung: Frank Neubauer
576 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 50 Euro
ISBN: 978-3-86425-665-3
Leseprobe
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