Ich liebe ihn, ich liebe ihn nicht. Ich bekomme das Kind, ich bekomme es nicht. In Andere Umstände von Julia Zejn erscheinen große Fragen plötzlich ganz klein.
Unter Eltern gibt es eine Reihe von Tabuthemen, die allmählich immer mehr Platz im öffentlichen Diskurs finden: Fehlgeburten etwa haben viel mehr (Nicht-)Eltern erlebt, als man so denken würde, und wer einen bewegenden Comic darüber lesen möchte, wie ein Paar eine Fehlgeburt erleidet und verarbeitet, findet in Tina Brenneisens Das Licht, das Schatten leert (Edition Moderne, 2019, hier rezensiert für Comic.de) eine wundervolle Lektüre. Wer hingegen auf der Suche nach einer väterlichen Feel-Good-Story ist, wird mit Frenk Meeuwsens Jahr Null (avant-Verlag, 2021) ganz gut liegen. In Andere Umstände geht es aber nicht um eine Familie, weil am Ende von Julia Zejns Comic weder Kind noch Paar bestehen bleiben.
Die zurückhaltende Soziologie-Doktorandin Anja verliebt sich in den Hobby-DJ und Lebenskünstler Olli, wobei ‚Lebenskünstler‘ nur die freundliche Umschreibung dafür ist, dass er weder einen festen Job hat noch Ambitionen, das zu ändern, allerdings braucht er für seinen TK-Pizza-Lebensstil auch nur das Nötigste. Was so klingt, als würde hier eine konservative Bilderbuchbiografie auf einen alternativen Lebensentwurf treffen, liegt aber falsch.
Wer die Arbeitsbedingungen und Zukunftsperspektiven vieler Doktorand*innen kennt (#ichbinhanna), weiß, dass dieses Leben ebenso prekär ist wie dasjenige des Hobby-DJs. Es ist Anjas Schwester, der die bürgerliche Rolle zukommt: „Meine große Schwester war die hochbegabte Streberin. … Und jetzt ist sie so eine Langweilerin geworden … geheiratet, Haus auf dem Dorf gebaut, zwei perfekte Kinder, Junge und Mädchen, und arbeitet halbtags als Lehrerin.“ Um dieser vermeintlichen Langeweile, die wir niemals direkt zu Gesicht bekommen, zu entkommen, lässt Anja sich mit Olli ein: Techno, Tiefkühlpizza, Türenknallen.
Die Schmetterlinge im Bauch flattern irgendwann davon, und der Comic lässt keinen Zweifel daran, dass Ollis sorglose Verantwortungslosigkeit das zentrale Beziehungsproblem ist: Er räumt nicht auf, kauft keine Lebensmittel ein, er putzt das Badezimmer nicht – „Mach ich morgen.“ Und dennoch ist er eitel genug, um sich anflirten zu lassen. Kurzum: Der Idiot ist wenig beziehungstauglich. Überhaupt kommen die meisten Menschen in Andere Umstände nicht besonders gut weg: Anjas Institutskollege Björn lässt sich von Anja Arbeit abnehmen, erwidert ihren Gefallen aber nicht. Der befreundete Vater Aniq kümmert sich nur sporadisch um seine Tochter Indra. Der DJ Paul knutscht mit Anjas selbstbezogener Freundin Neele, obwohl Pauls Frau und Kind zuhause warten. Vor allem die Männer kommen nicht gut weg.
Als Anja nach zweijähriger Beziehung schwanger wird, kommen ihr Zweifel: „Nichts in mir sagt, dass ich gerade Mutter werden will.“ Und so entschließt sie sich, die Schwangerschaft abzubrechen. Für die Beziehung ist die Entscheidung der K.O.-Schlag, der längst zu erwarten war: „Knall. Krach.“ Nach zwei Gesprächen mit ihrer Freundin Mona und ihrer Frauenärztin ist alles geregelt: „Ich bin mir sicher.“ Schnitt. Fünf Jahre später. Auf einem Flohmarkt begegnen Anja und Olli sich erneut. Er wühlt in einer Plattenkiste, sie trägt Baby Lars in der Trage. Höfliche Verlegenheitsfloskeln. „Ähm, dann mach’s mal gut, Anja.“ – „Du auch Olli.“ Schluss.
Es scheint derzeit ein Trend zu beobachten zu sein, liberale Abtreibungsgesetze in Frage zu stellen bzw. zu verschärfen. Viel Aufmerksamkeit hat die Entscheidung des Supreme Court in den USA bekommen, die seit 49 Jahren bestehende Duldung von Schwangerschaftsabbrüchen rückgängig zu machen und damit den Bundesstaaten zu ermöglichen, Abtreibungen unter Strafe zu stellen. 2020 wurde das Abtreibungsrecht in Polen erheblich verschärft, und auch in Deutschland hat die Diskussion neuen Zündstoff bekommen.
2017 bekam die Gießener Allgemeinärztin Kristina Hänel Post vom Amtsgericht, weil sie online über Schwangerschaftsabbrüche informierte und damit gegen das Werbeverbot für den Abbruch einer Schwangerschaft verstieß (Paragraph 219a StGB). Nach jahrelangem Rechtsstreit hat der Bundestag im Juni 2022 diesen Paragraphen abgeschafft und Kristina Hänel damit rehabilitiert.
Auf diese Diskussionen reagiert Zejns Comic, indem sie Anjas Entscheidung für die Leser*innen nachvollziehbar macht. Um die Geschichte an reale Erfahrungen rückzubinden, hat sie etwa zwanzig Frauen interviewt, die sie über die Sozialen Medien gefunden hat. Deren Erfahrungen entsprechen nicht dem Bild, das Abtreibungsgegner gern verbreiten: Dies sind keine traumatisierte Frauen, die mit ihrer (Fehl-)Entscheidung von einst nicht zurechtkommen.
Und damit kommen wir zum Problem: Der Konflikt, den eine Story braucht, gibt es kaum. Nach 130 Seiten mühevoller Beziehung braucht es 1 Panel für Anjas Entscheidung („Es fühlt sich nicht richtig an.“) und drei wenig erhellende Gespräche mit ihren Vertrauten (50 Seiten), wobei Ollis Einwände so naiv und trottelig sind, dass wir sie ganz schnell beiseiteschieben können: „Vielleicht ist es ja auch eine Chance für mich … Verantwortung für mein Leben zu übernehmen und so.“ Was für ein Blödsinn.
Ich verstehe den Impuls, Anjas Entscheidung nicht zu skandalisieren und ihre Handlung nicht zu verurteilen, aber indem der Comic den Konflikt nivelliert, geht der Geschichte die Reibungsfläche verloren, die sie erst spannend machen würde. Warum sollte es uns als Leser*innen Interesse abringen, wenn die (meisten) Figuren Anjas Entscheidung doch mit größter Gelassenheit aufnehmen?
Zejn macht die Entscheidung vor allem vom unzuverlässigen Partner abhängig, dabei ließen sich auch in Anjas Charakter einige offene Baustellen ausmachen: Was hat es mit diesem Konflikt mit der ganzen Familie und ihrer Aversion gegen den Lebensstil ihrer Schwester auf sich? Wie kann sie ihre Arbeitswirklichkeit als viel sicherer einschätzen als diejenige ihre Partners? Anja wirkt, obwohl sie als positive Figur angelegt zu sein scheint, eher fremdbestimmt, unentschlossen und zögerlich. Und auch mit ihrer Entscheidung für den Schwangerschaftsabbruch scheint sie dieses Muster nicht zu durchbrechen: „Kann mich mal wieder nicht entscheiden. Hab‘ noch ne Stelle an der Uni“, resümiert sie bei ihrem Wiedersehen mit Olli.
Dieser kurze Epilog ist überhaupt irritierend: Warum braucht es diese Begegnung fünf Jahre später, so als ob die Figur nun allen Abtreibungsskeptikern beweisen müsse, sich nicht grundsätzlich dem Muttersein verschlossen zu haben? Immerhin ermöglich der Anhang dem Titel eine zweite Lesart, denn er funktioniert zugleich als Redewendung, welche die Schwangerschaft bezeichnet, und als Kommentar, dass Anja unter ‚anderen Umständen‘ sehr wohl ein Kind bekommen kann.
Julia Zejns Drei Wege (2018) war ein toller Comic über die verschiedenen Lebenswege dreier Frauen, und Andere Umstände kann an dessen Qualitäten nicht anknüpfen. Abgesehen von dem sehr aktuellen Thema ist die Umsetzung doch etwas enttäuschend, nämlich sehr geradlinig und plakativ. Einige Szenen wie etwa die folgenreiche Liebesnacht im Zelt sind wunderschön geraten, wenn die Körper der beiden Liebenden völlig miteinander verschmelzen. Andere Szenen wie die Disco-Sequenz sind eher durchwachsen, weil „Bumm Bumm Bumm“ auf den ersten Blick nun einmal keine sehr einfallsreiche Lautuntermalung für eine Technoparty ist.
Andere Umstände hat, das muss man auch erwähnen, viel Lob in der Presse erhalten – und sicherlich trifft das Thema auch einen Nerv. Die Umsetzung aber trifft nicht meinen Geschmack, oder wie Anja sagt: „Ich spüre nichts.“
Große Fragen ganz klein
avant-Verlag, 2021
Text und Zeichnungen: Julia Zejn
200 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-96445-064-7
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