Sex, Jugendliche und Horrorfilme – Charles Burns hat sein Black-Hole-Erfolgsrezept zwar nicht 1:1 kopiert, bleibt mit Daidalos aber ganz dicht am Original.
Charles Burns (Black Hole, 1995–2004) hat seine Albenserie Daidalos auf fünf oder sechs Bände ausgelegt – ganz genau wisse er das noch nicht. Erstaunlich ist, dass die Bände nicht zuerst bei Fantagraphics erscheinen, wie man vermuten könnte, sondern bei dem französischen Verlag Cornelius. In den USA ist die Serie erst zur Publikation vorgesehen, wenn alle Bände erschienen sind. Die Amerikaner werden also noch etwas warten müssen …
In Daidalos 1 (hier zur Rezension auf Comic.de) schildert Burns das Kennenlernen von Brian und Laurie auf der Geburtstagsparty ihres gemeinsamen Freundes Jimmy. Er findet sie sehr anziehend, sie ihn sehr seltsam. Und als Leser*innen haben wir sofort Verständnis für beide Perspektiven. Das liegt auch daran, dass die ständigen Perspektivwechsel zum Konzept gehören: Mal folgen wie Laurie und erfahren ihre Gedanken, dann wiederum blicken wir Brian über die Schulter. Wir beobachten ihn beim Zeichnen und teilen seine Gedanken über den Film, den er gern drehen möchte, denn Brian ist ein Künstler durch und durch.
Im ersten Band ging es vor allem um die Rezeption von Filmen, sei es der selbstgedrehte Horror-Kurzfilm The Creeping Flesh, der einen beunruhigenden Einblick in das Seelenleben der damals 12-jährigen Filmemacher gewährt, oder der Science-Fiction-Klassiker Invasion of the Body Snatchers (1956), den Laurie und Brian im Kino sehen – die erste Filmadaption unter der Regie von Don Siegel, nicht die spätere aus dem Jahr 1978 (Regie: Philip Kaufman). Der zweite Band von Daidalos knüpft an diesen Fokus auf Filme an, indem eingangs Jimmy, Laurie und (die neu eingeführte) Tina Brian spätabends besuchen, um den selbstgedrehten Horrorfilm The Claw zu sehen. Dann aber verlagert sich der Fokus vom Filmesehen auf das Filmemachen.
Laurie ist zur Hauptdarstellerin des neuen Filmprojekts von Brian und Jimmy avanciert: Ihre Aufgaben bestehen aus nachdenklichem Herumlaufen, nachdenklichen Blicken in die Ferne und vor allem darin, nicht direkt in die Kamera zu sehen. Illusion ist alles. Nach einem anstrengenden Drehtag am Strand fließt der Alkohol, Tina offenbart nicht nur ihren nackten Hintern, sondern auch ihre Gefühle für Tina und Brian sitzt wieder am Strand und zeichnet.
Viele Details aus dem ersten Band tauchen wieder auf: die bohnenförmigen Kokons, die Twizzlers, die Brian im ersten Teil so enthusiastisch anpries, die verwinkelten Wege und die Tür im Fels. Thema und Symbolik der Serie entstammen voll und ganz dem Black-Hole-Repertoire, woraus Charles Burns selbst auch gar keinen Hehl macht: „Ich bin ein Gefangener meiner Obsessionen. Das Bild vom Autor, der immer wieder dieselbe Geschichte erzählt – das trifft wohl auf mich zu. Ich habe mich angestrengt, meinen Lieblingsthemen zu entkommen, aber ich muss sagen, sie holen mich immer wieder ein“, erläutert der Autor in einem Interview für arte.tv.
Wie schon in Black Hole lassen die Metamorphosen sich als Allegorie auf die Adoleszenzphase verstehen: Kinder verwandeln sich in Erwachsene, wenn auch ohne Kokon (wie Laurie in Brians Phantasie) und meist ohne das Zutun Außerirdischer (wie in Invasion of the Body Snatchers), aber ein unheimlicher Prozess ist es allemal, und natürlicherweise ist dieser auch mit Rausch und Sexualität verbunden. In Daidalos fehlen noch die Irritationen der Erwachsenen, die in Black Hole als Maßstab der Normalität fungieren. Das Nebeneinander einer (scheinbaren) Normalität und einer jugendlich-abgründigen Wirklichkeit ist ja nicht auch zuletzt das Thema von Invasion of the Body Snatchers, der allgemein als Allegorie auf den Kommunismus (oder den Kapitalismus) gelesen wird. Spannend wird sein, welche Rolle Burns in diesem Zusammenhang den Medien beimisst, die in Daidalos sehr präsent sind.
Burns lässt sich viel Zeit mit dieser langsam erzählten Story, die viel Wert auf Wiederholungen und symbolische Bedeutungen legt – ganz in der Logik von Traumdarstellungen. Wie Dädalos im Labyrinth des Minotaurus keinen Ausweg findet, suchen wir Leser*innen auch noch nach dem Ariadnefaden, der uns wieder hinausführt wie einst Theseus. Solange wir darin verweilen, können wir die – im Gegensatz zu Black Hole – kolorierten Zeichnungen von Burns genießen, seine markanten Nasen bewundern und über die immer länger werdenden Hälse staunen. Vielleicht aber entpuppt sich eines der lächelnden Gesichter mit allzu glatter Oberfläche noch als furchterregende Fratze des Minotaurus.
Der Abgrund der Adoleszenz
Reprodukt, 2021
Text und Zeichnungen: Charles Burns
Übersetzung: Heinrich Anders
64 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-293-7
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