Rezensionen
Schreibe einen Kommentar

Vampir & Aspirine

Joann Sfar ist einer der produktivsten und erfolgreichsten Zeichner Frankreichs (außerdem macht er Filme und schreibt Romane). Neben seinem bekanntesten Werk Die Katze des Rabbiners liegen von ihm bereits viele weitere Comics in deutscher Sprache vor. Zu diesem bunten Reigen unterschiedlichster Arbeiten hat sich mit Vampir und Aspirine jüngst eine weitere, zweiteilige Sammelbandreihe gesellt. Sfar interpretiert darin den Vampirmythos auf seine eigene Weise und fabuliert weit darüber hinaus. Dreh- und Angelpunkt der Reihe ist der melancholische Vampir Ferdinand. Optisch mit Frack und Krawatte bekleidet und von Sfar selbst in einem Interview als Mischung aus Murnaus Graf Orlock und den Marx Brothers bezeichnet, streift dieser des Nächtens durch die urbanen Lokalitäten seines Heimatlandes Litauen.

Die CG-Redakteure Benjamin Vogt und Daniel Wüllner haben sich mit den beiden Büchern Vampir und Aspirine beschäftigt und bewerten diese in Form einer Dialog-Rezension.

© Joann Sfar/avant-verlag

Benjamin: In seiner Rolle als untoter Blutsauger verhält sich Ferdinand ja eigentlich eher untypisch. Menschen knabbert er nur kurz an, statt sie komplett auszusaugen. Viel lieber besucht er den örtlichen Plattenladen, um seine Vinylsammlung zu erweitern oder geht in die Disco. Und überhaupt sind es die alltäglichen Dinge, mit denen sich Ferdinand herumschlagen muss. Beziehungsprobleme zum Beispiel. Trotz seiner zurückhaltenden, tollpatschigen Art entpuppt er sich als echter Frauenschwarm. Gerade frisch getrennt von seiner Freundin Liou, einem Pflanzenwesen, stürzt er sich in gleich mehrere Liebschaften. Darunter auch mit der rothaarigen Gothicbraut Aspirine (deren Schwester bezeichnenderweise Ritalina heißt), die seit 200 Jahren 17 Jahre alt ist. Kein Wunder, ist sie doch auch ein Vampir. Erleben wir anhand von Ferdinand also eine Art moderne Interpretation des medial stark ausgeschlachteten Vampirmythos oder will Sfar das Monster zum romantischen Nachbarn verklären?

Daniel: Moderne Interpretation oder romantische Verklärung? Beide Erklärungsversuche scheinen nicht ganz zu greifen. Vielmehr beginnen die folkloristischen Sagengestalten, die Vampire, der Werwolf und auch die Baummenschen, im Comic nur allzu menschliche Gefühle zu empfinden: Sie gieren nach Sexualität, verzehren sich vor Verlangen, spüren die Entsagung und fühlen die Eifersucht. Sfar lässt diese beiden Ebenen parallel zueinander laufen, lässt sie sich überschneiden und abwechselnd die andere dominieren. Das macht die Verortung so schwierig. Auch wenn Ferdinands Romanzen in Vampir noch stärker im Vordergrund stehen als im zweiten Band Aspirine, ist die Bezeichnung „Frauenschwarm“ etwas zu stark – schmachtet der doch seiner Ex-Freundin nach. Er gibt sich jämmerlich und reagiert gleich im nächsten Moment wieder extrem irrational. Kurz: Er menschelt. Ebenso wie die Kollegen Christophe Blain (Isaak, der Pirat) und Lewis Trondheim (Donjon, Herr Hase) gelingt es Sfar im ersten Folianten, die Mythen mit dem alltäglichen Liebesleben geschickt zu verbinden. Doch nimmt die Entwicklung in Aspirine immer groteskere, ja brutalere Züge an: Lynchmobs streifen durch das nächtliche Litauen, Menschen werden verbrannt und erschossen. Siehst du auch eine Differenz zwischen den beiden Bänden?

© avant-verlag

© Joann Sfar/avant-verlag

Benjamin: Der Gedanke kam mir beim Lesen auch. Der Eindruck wird aber wohl auch dadurch geschaffen, dass, wie du bereits erwähnt hast, im zweiten Band der Fokus noch ein Stück weiter weg von Ferdinand und seinen Liebeleien gerückt wird. Dadurch entstehen Freiräume für die Nebenfiguren, insbesondere Aspirine, und noch abgedrehtere Geschichten. Überbewerten würde ich die Unterschiede zwischen beiden Büchern allerdings nicht, zumal all diese Elemente auch im ersten Band ihren Platz haben. Lediglich die Akzentuierung ist eine etwas andere, wenn man so will. Generell verbleibt Joann Sfar über beide Bücher hinweg in einer episodenhaften Erzählstruktur verhaftet. Im Prinzip besteht die Serie aus einer Aneinanderreihung vieler Motive und Geschichten. Die Figuren, die er dazu benutzt, sind zum Teil bereits aus anderen Werken des Franzosen bekannt, z.B. aus Professor Bell oder aus dem Band Die kleine Welt des Golem. Und auch Ferdinands Hauskatze erinnert vermutlich nicht von ungefähr an die Titelfigur aus dem eingangs erwähnten Opus magnum Sfars. Jede dieser Figuren ist Bestandteil des Sfarschen Erzählkosmos und bekommt ihren persönlichen Plot gewidmet. Das macht Ferdinand als zentralen Darsteller wohl auch so wenig greifbar. Hast du die Serie beim Lesen ebenfalls als stark episodenhaft, sprunghaft wahrgenommen und Ferdinand gewissermaßen als den Kitt, der das Ganze zusammenhält?

© avant-verlag

© Joann Sfar/avant-verlag

Daniel: Ja, die Handlung ist in beiden Bänden in der Tat relativ sprunghaft. Doch wie du ganz richtig beschreibst, ist Ferdinand das Bindeglied zwischen den einzelnen Episoden von Vampir. Was für mich im ersten Band sehr gut geklappt hat, will im zweiten Band nicht richtig funktionieren. Sfars Handlungsaufbau wirkt zu fragmentarisch, zu viele Zäsuren, zu viele Überleitungen zu anderen Charakteren. Obgleich auch Ferdinands fahles Antlitz auf dem pechschwarzen Cover zu sehen ist, so steht dort doch Aspirines Name, geschrieben im gleichen Ketchup-Orange ihrer Haare. Mit diesem Wechsel zur weiblichen Perspektive bricht Sfar mit der überschaubaren Struktur aus dem ersten Band. Die selbstbestimmten Frauenfiguren deuten dies an: die Künstlerin, die bei Ferdinand wohnt, aber nicht mit ihm schlafen will. Aspirine und ihre Schwester Ritaline sind keine Objekte männlicher Begierde. Sie werden zu Subjekten, handeln selbstbestimmt und gewinnen die Oberhand im Kampf der Geschlechter. Als weitere Figuren führt Star die Hexen Nope und Zaineb ein. Im Vergleich zu den melancholischen Vampiren/innen wirken die Hexen unreif, egozentrisch und überdreht. Bewerte ich die Geschlechterrollen in Aspirine über, oder hast du das ähnlich gelesen?

Benjamin: Sfars Arbeitsweise wirkt auf mich persönlich immer stark intuitiv, spontan. Fast so, als würde er sich von einer Szenerie zur nächsten tragen, ohne vorher zu planen, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Ähnlich dürfte es da dem Leser gehen. Wenn du also von Aspirines vermehrter Präsenz im zweiten Band sprichst, dann unterstreiche ich das. Sicherlich findet hier eine mal mehr, mal weniger forcierte Verschiebung, bzw. ein Perspektivwechsel zur weiblichen Seite statt. Besonders auf das letzte Drittel von Aspirine trifft das im sichtbaren Maße zu. Eine wie immer geartete, gezielte Propagierung einer Geschlechterrolle würde ich dennoch nicht sehen. Dann müsste man auch den Baummann, den Werwolf oder den Golem als männliche Figuren auf die gleiche Weise analysieren. Warum z.B. sind alle weiblichen Wesen in diesem übersinnlichen Horrorstück immerhin noch einigermaßen attraktiv, die Männer dagegen auch äußerlich als Monster gebrandmarkt? Ich glaube (befürchte), Sfar ist ein Meister des assoziativen Erzählens und macht sich beim Zeichnen einer Szene gar nicht so viele Gedanken über die nächste. So erscheint es mir, dass sich Vampir und Aspirine mit ihrer grafischen Lockerheit und dem sprunghaften Erzählstil als zwei unabhängige, aber gemeinsame Stücke eines einzigen Kosmos lesen lassen. Das Spannende an den Büchern des Franzosen ist ja, dass die Bilder wie skizzenhaft mit unruhigen Linien gezeichnet wirken, obwohl sie sehr detailreich und präzise sind. Sfars grafischer Stil der zittrigen Umrandung und der ungeraden Linien, die tollen Farben, die markant gezeichneten Figuren: Egal ob man die zweiteilige Reihe nun als kohärentes Gesamtwerk betrachtet oder als fragmentierte Zusammenstellung, auf grafischer Ebene lässt Sfar wie gewohnt keine Schwächen erkennen.

© avant-verlag

© avant-verlag

Daniel: Du hast wahrscheinlich recht. Wenn ich mir überlege, wie ich zu meiner Interpretation gekommen bin, dann habe ich die Lücken und Freiräume in Sfars Erzählung genutzt, um sie mit meinen Ansichten über Liebe, Geschlechterrollen und Vampire zu füllen. Sprich: Vampir und Aspirine erfüllen gerade durch ihre teilweise lose Erzählstruktur, durch die Sprünge innerhalb der Narration das, was einen guten Comic ausmacht: Er lädt den Leser ein, die Geschichte mit zu konstruieren. Und wenn wir nur ein gefährliches Halbwissen über Vampire, Werwölfe, Hexen und Baummenschen haben, so können wir die andere Hälfte doch mit unserer Unwissenheit über die Liebe füllen, die wir mit den menschlichen Figuren teilen.

Benjamin: Na, in jedem Fall zeigt Joann Sfar mit Ferdinand und Co. mal wieder, wie ein vor Fantasie strotzender Comic aussehen kann. Dass man angesichts eines solchen, trotz aller Menschlichkeit absurden, Machwerks dennoch geneigt ist, seine subjektiven Erwartungen, Vorstellungen und Überzeugungen hineinzuprojizieren, spricht für die Arbeit des Künstlers.

Vampir
avant-verlag, 2013
Text/Zeichnungen: Joann Sfar
Übersetzung: Paula Bulling, Barbara Hartmann
216 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 29,95 Euro
ISBN: 978-3-939080-74-9
Leseprobe

Aspirine
avant-verlag, 2014
Text/Zeichnungen: Joann Sfar
Übersetzung: Paula Bulling
224 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 29,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-09-5
Leseprobe

Benjamin:

Daniel:
7von10

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken dieses Formulars erklärst du dich mit unserer Datenschutzerklärung einverstanden.