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True Stories

True oder nicht true? Tina Brenneisen lässt keine Zweifel daran, dass ihre True Stories mit beiden Beinen in der Wirklichkeit stehen. Wenn sie Beine hätten.

Alle Abbildungen © Parallelallee

Wenn Stories sich als „True“ ausgeben, sind sie ziemlich oft alles – nur nicht wahr. Nicht selten ist es ein ironischer Gestus, den wir aus Herausgeberfiktionen wie Daniel Defoes Robinson Crusoe, diversen Mockumentaries oder, wenn auch seltener, in Comics wie in Albert Mitringers Requiem (hier besprochen auf Comic.de) allzugut kennen. Auch Tina Brenneisen (Das gelbe Pony, Das Licht, das Schatten leert) bedient sich einer traditionellen Erzählsituation: Drei Wissenschaftler entdecken am Strand ein Wesen, das sie aus ihrer Welt nicht zu kennen scheinen: eine Frau. Die erstaunten Männer nehmen Marie Luis mit nach Hause, versorgen sie fürsorglich und stillen ihre wissenschaftliche Neugier: „Dürfen wir dich mal was fragen?“ Während Antworten uns immer etwas über die Person verrraten, die antwortet, lehren uns Fragen auch einiges über die Fragesteller. Die anfänglich nachvollziehbare Wissbegier gleitet rasch in obskure Vorstellungen ab: „Hast du schon viele Frauen getroffen?“ mag noch nachvollziehbar sein, aber „Mögen sie Pudding?“ und schließlich „Beziehen sie ihre Kraft von den Bewegungen der Ninjas?“ verraten einiges über die Gedankenwelten der Männer.

Die drei Wissenschaftler nehmen Marie-Luis im Auto mit.

Nun, seltsame Fragen rufen erstaunliche Antworten hervor, und wenn Marie-Luis mit dem Erzählen beginnt, können wir uns auf reichlich seltsame Geschichten gefasst machen: „Also …“. Es folgt eine Geschichte über ein Dorf, in dem Männer sich ständig sexuell an Frauen vergehen und dadurch reichlich unklare Familienverhältnisse erzeugen. Eine Lösung ist rasch gefunden, als die Männer auf die Idee kommen, die Frauen voillständig zu verhüllen, damit deren körperliche Reize nicht mehr so provozierend auf die Männer wirken. Nur ist es so schwierig, anständig zu kochen, wenn man ein „Volltuch“ trägt. Ob man dies als einen Kommentar zu religiös motivierten Verschleierungstraditionen oder zu westlichen Der-kurze-Rock-war-Schuld-Debatten lesen möchte, bleibt den Leser*innen selbst überlassen.

In diesem Comic haben die Frauen alles Recht, wütend auf die Männerwelt zu sein.

Tina Brenneisen greift in ihren drei Geschichten aktuelle gesellschaftliche Themen wie geschlechtergerechte Sprache, den Klimawandel und Geschlechterrollen auf, mit viel Humor und jedes Mal so überspitzt, dass die Geschichten nicht belehrend daherkommen. Ganz nebenbei erweisen die Frauen, von denen Marie Luis erzählt, sich als sehr produktiv: Sie erfinden die Schere, die Zigarette sowie Pfeil und Bogen, jeweils aus einer von Männern verursachten Notsituation heraus. An diesen Punkten werden sogar die naiven Wissenschaftler misstrauisch: „Das ist unlogisch!“ Aber die Stories sind, das wissen wir als Leser*innen, auch nicht deshalb wahr, weil die Ereignisse wirklich stattgefunden haben, sondern weil die Konflikte der Figuren ganz real sind.

Gesellschaftliche Diskussionen sind gewünscht, solange die Scholle nicht schmilzt …

Am unterhaltsamsten ist die zweite Geschichte geraten, in der eine Inuit-Gruppe sich ganz demokratisch für einen „DIE-Tag“ entscheidet, an dem „wir ausschließlich den Artikel DIE verwenden“: Die Mann. Die Haus. Die Schnee. „Das würde uns alle mehr für den DIE-Artikel sensibilisieren … und so würden auch die Kinder lernen, dass der DIE-Artikel genauso eine große Rolle spielt wie der DER-Artikel.“ Schnell erweist sich das Sprachprojekt als verzichtbarer Luxus, als das Schmelzen der Eisscholle andere Notwendigkeiten in den Vordergrund rückt. Während der Mann ‚den Überblick‘ behält, versorgt die Mutter die Kinder. Ob wir Leser*innen nun geschlechtergerechte Sprache grundsätzlich als sinnloses Oberflächenphänomen verurteilen oder vielmehr bedauern, dass das Thema immer wieder verdrängt wird, bleibt uns tatsächlich überlassen.

Mehrdeutig: Brenneisen überlässt dem Urteil der Leser*innen, ob der Vorschlag besonders konsequent ist – oder ironisch.

Die Zeichungen der Figuren sind herrlich entrückt, so überzogen wie die Charaktere und Lügengeschichten es auch sind: die großen Ohren, die langen Nasen, die sich nicht als Kartoffeln oder Karotten beschreiben lassen, sondern am besten ganz wortlos als Zeichnung bestehen bleiben.

Brenneisens Das Licht, das Schatten leert war ein sehr bewegender Comic, der sich dadurch auszeichnete, einem so schwierigen Tabuthema wie einer Fehlgeburt auch mit Humor zu begegnen. Diesen True Stories ist der Humor noch viel tiefer in die erzählerische DNA eingeschrieben. Wie in einer romantischen Erzählsammlung von E.T.A. Hoffmann begleiten wir die etwas skurrile Erzählerin durch ihre unterhaltsamen Geschichten. „Sie war eben eine Lügnerin vor dem Herrn“ resümiert die Erzählstimme. Aber nicht nur vor Gott, auch vor den menschlichen Herren.

Unterhaltsame Lügengeschichten

8von10True Stories
Parallelallee, 2022
Text und Zeichnungen: Tina Brenneisen
96 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 19,00 Euro
ISBN: 978-3981623543
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